Dicke Luft in Ehringen

Die Gletscher schmelzen, Städte versinken und Eisbären ertrinken. Während in Medien mit Schreckensbildern vor den Folgen des Klimawandels gewarnt wird, werden Kinder mit  ihren Ängsten meist allein gelassen. Im Rahmen des Klimaherbstes hat der Bund Naturschutz Kinder aufgefordert, ihre Ideen und Gedanken zum Thema Klimawandel auf Papier zu bringen. An sieben Münchner Schulen wurden mit Gitta Gritzmann (kinderschreiben.de)  Schreibwerkstätten zum eingerichtet, in denen mehr als 80 Geschichten und Illustrationen entstanden.

Den Text von Markus Friesenegger (12 Jahre) – „eine fast wahre Geschichte“ – gibt es hier.


Dicke Luft in Ehringen

Eine fast wahre Geschichte

Kriminaloberkommissar Kurt Steinbach hätte fast den Trinkwasserspender des Präsidiums gerammt. Er war nervös. Sehr nervös. Sein Vorgesetzter hatte ihn gerade mit einem neuen Fall betraut, von dem Steinbachs Beförderung zum Kriminalhauptkommissar abhing. Nun war er auf dem Weg zum Büro seines Kollegen, des Kriminalmeisters Lorenz. Als er es – ohne weitere Zwischenfälle – erreicht hatte und die Tür aufriss, schlug ihm ein brenzliger, beunruhigender Geruch entgegen. Und als er Lorenz sah, war es um seine Beherrschung endgültig geschehen. Der Kriminalmeister stand neben seinem Papierkorb und warf brennende Zündhölzer hinein.

„Lorenz, was machen Sie da?“, schrie Steinbach. Vor Schreck ließ Lorenz ein brennendes Holz auf den ziemlich ausgetretenen Teppich fallen. „M…Müllverbrennung!“, stotterte Lorenz. „Wie bei Lung-Papier in Ehringen an der Wartnach.“ Er gewann wieder an Selbstsicherheit. „Und die werden sogar Geld damit verdienen.“ Der Kommissar sah hilfesuchend zum Himmel. Leider war die Decke im Weg. „Mein Gott, Lorenz, doch nicht so! Aber das ist gerade nicht so wichtig. Wir haben einen Fall und müssen nach Ehringen, also kommen Sie. Und, dass das klar ist: Wenn wir den BMW kriegen, fahre ich!“ Mit einer hektischen Handbewegung winkte Steinbach seinen Kollegen aus dem Büro zu sich und schloss die Tür.

Die dünne Rauchfahne, die mittlerweile vom Boden aufstieg, hatten beide nicht bemerkt.

„Passen Sie auf“, begann Steinbach, als sie im Dienst-BMW saßen. „Lung-Papier baut ein Heizkraftwerk, in dem Müll verbrannt wird. So gewinnen sie Energie für die Papierherstellung – laut Lung!“

„Na bitte, sag ich doch. Die dürfen das auch!“, unterbrach ihn Lorenz.

„Theoretisch schon, aber in der Praxis ist es eine Saue…- ist es schrecklich.“

„Wie bitte?“

„Also. Die Papierfabrik Lung gehört seit ein paar Jahren zum schwedischen Müllikowsky-Konzern, wie auch andere Firmen auf der ganzen Welt. Jetzt braucht Lung ein neues Kraftwerk für die Produktion. Übrigens – benutzen Sie Ihren Notizblock in Zukunft bitte zweimal. Man benötigt sehr viel Energie, um Papier zu machen, Lorenz. Nun gut, Müllikowsky will nun diese Energie dadurch gewinnen, dass der Müll der Fabrik verbrannt wird.“ – „Ist doch prima! Dann gibt es keine Müllberge in Ehringen!“, warf Lorenz ein. „Na ja“, brummte Steinbach, “sie wollen aber nicht nur den Lung-Müll verbrennen, sondern auch noch Klärschlamm, Reststoffe aus den anderen Müllikowksy-Werken und – gegen Geld natürlich – sogenannte Ersatzbrennstoffe. Das sind Kunststoffe aus Haus- und Gewerbemüll. Sie transportieren das Zeug aus ganz Deutschland und wer weiß woher nach Ehringen. Wenn sie aus all dem Energie machen würden, hätten sie so viel Strom, dass sie nicht mehr wissen, wohin damit, Lorenz.“ – Lorenz starrte stumm auf die Streichholzschachtel, die er immer noch in der Hand hielt. „Aber – aber dann verbrennen die den Müll ja gar nicht, um Papier damit zu machen, sondern Geld.“ Steinbach nickte kurz. „Jap. So sehe ich das auch. Dieses Heizkraftwerk soll in Wirklichkeit eine Müllverbrennungsanlage werden. Und zwar die zweitgrößte in ganz Bayern. Dabei ist die große kommunale Verbrennungsanlage in Augsburg gar nicht ausgelastet. Dort ist die Verbrennung allerdings auch teurer, weil Kommunen für die Müllverbrennung höhere Sicherheitsvorschriften befolgen und eine teurere Filtertechnik einsetzen müssen. Private Heizkraftwerke haben solche Auflagen nicht. Und die Filteranlage, die in Ehringen verwendet werden wird, ist der heutigen Technik absolut hinterher!“ Lorenz starrte immer noch. „Und das giftige Zeug, wenn das verbrannt wird und der Rauch nicht richtig gefiltert wird – was passiert dann?“ – „Lorenz, das wollen Sie gar nicht wissen.“ – „Aber da gibt’s doch so viele Biobauern in der Gegend.“ – „Tja. Da drüben ist es. Wir sind da.“

Vor dem Haus standen ein Rettungswagen und viele Leute, die Steinbach von Anfang an hasste, allein, weil sie ihm den Weg versperrten. Als die beiden Polizisten das Haus betraten, bemerkten sie zunächst nichts Ungewöhnliches. So auch im Wohnzimmer – auf den ersten Blick. Steinbach durchquerte den Raum auf ein zerbrochenes Fenster zu, bis aus einer Ecke ein Ruf erklang: „Halt!“ Erschrocken drehte der Kommissar sich um. Ein Mann, mittelgroß, Mitte dreißig, gekrönt von einem dicken Kopfverband und gefolgt von einem Sanitäter, schritt energisch auf ihn zu. „Passen Sie doch auf, wo Sie hintreten! Beinahe hätten Sie meinen original Reynold’s Rocket zerquetscht!“

Steinbach sah verdutzt auf den Boden. Vor ihm lag ein alter Kugelschreiber.

„Ich nehme an, Sie sind ein Sammler?“, fragte Lorenz mit Blick auf die kaputten Wandvitrinen, in denen es von Stiften nur so wimmelte.

„Oh, ja! Es ist die siebzehntgrößte Kuli-Sammlung Deutschlands“, erwiderte der Mann stolz.“ Wussten Sie eigentlich, dass die Bezeichnung Kuli … Hey!“ Der Sanitäter versuchte, den Mann auf einen Stuhl zu zerren. „Ich bitte Sie, Dr. Herold, Sie sind verletzt! Setzen Sie sich!“ Widerwillig und zitternd vor Erregung nahm Herold Platz. „Herr … Herold“, begann Steinbach, „würden Sie mir bitte schildern, was genau passiert ist?“

„Schon gut, Sie Banause! Also, ich habe gestern wie immer bis spät in die Nacht hinein gearbeitet. Wissen Sie, ich bin Vorsitzender der Bürgerinitiative „Gesundes Wartnachtal“. Also, ich habe einen neuen Flyer gegen das Heizkraftwerk in Ehringen vorbereitet. Ich sage Ihnen, diese Anlage … aber wir haben schon über 11 000 Unterschriften dagegen gesammelt. Ob’s hilft? Ich weiß nicht. Wissen Sie, dass bei der Filtertechnik, die sie dort einsetzen wollen, Quecksilber frei wird und sich hochgiftige Dioxine und Furane im Boden anreichern? Die kommen dann z.B. über die Milch in die Nahrungskette.“ Lorenz nickte eifrig „Ja, und die Biobauern können zumachen und Bayermünchen hat doch hier seine Trinkwasserschutzgebiete!“ Steinbach unterbrach die beiden mit energischem Räuspern. Herold nickte, holte tief Luft und sprudelte los: „Ja, also ich saß an diesem Tisch am Laptop und schrieb den Flyer und da klirrt plötzlich das Fenster und ich drehe mich um und ich spüre einen Schlag an die Schläfe und alles wird schwarz und ich wache auf und mein Laptop ist weg und die Vitrinen sind kaputt und alles ist durchwühlt und …“ – „Schon gut, schon gut, und konnten Sie erkennen und … äh, wer Sie überfallen hat?“ – „Leider nicht, aber es war garantiert einer von Müllikowsky. Das sind die Typen, die die Anlage bauen wollen, also, Sie würden nicht glauben, was dort …“, begann Herold, doch Steinbach erstickte den neuen Redeschwall im Keim. „Danke, ich weiß. Fehlt sonst noch irgendetwas?“ „Nein, aber ich habe einen Beweis!“, antwortete Herold selbstsicher und hielt Steinbach einen Stift unter die Nase. „Lung-Papier, Ehringen“, las Steinbach.„Sehen Sie!“, meinte Herold triumphierend. „Es war einer von Lung-Papier! Wahrscheinlich machen wir denen richtig Angst. Die werden nervös. Neulich hat deren Chef schon wutschnaubend eine Bürgerversammlung in Bayermünchen verlassen, weil er keine Argumente mehr hatte. Müllikowsky steht das Wasser bis zum Hals. Bayermünchen ist kein Dorf und die sind auch betroffen durch die Windrichtung, wissen Sie? Und wenn wir noch mehr Leute mobilmachen, dann wird’s eng für Lung und es steht ja viel Geld auf dem Spiel für Müllikowsky und aua!“ Er griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die eingebundene Schläfe.

***

„So abwegig ist seine Theorie gar nicht“, gab Steinbach zu, als sie wieder vor dem Haus standen. „Das Kraftwerk hat viele Feinde, auch in Ehringen. Die Leute glauben, dass ihre Häuser bald nichts mehr wert sind. Außerdem haben sie Angst vor Störfällen. Der Müll kommt nämlich vor der Verbrennung erstmal in sogenannte Bunker. Wenn es in so einem Bunker zum Brand kommt, kann man nicht mehr kontrollieren, was für Gifte dabei entstehen. Besondere Sicherheitsmaßnahmen für Störfälle sind aber nicht vorgesehen. Riesige Mengen Gift könnten in die Luft abgegeben werden.

Aber bei einer Umfrage in Ehringen waren 80 Prozent der Einwohner für das Kraftwerk. Lung sagt nämlich: Entweder wir bauen die Anlage oder wir machen hier dicht und ihr sitzt auf der Straße. Und fast alle in Ehringen arbeiten bei Lung. Natürlich mögen diese Leute „Gesundes Wartnachtal“ nicht sonderlich. Sie verstehen? Und jetzt lassen Sie uns die Gaffer befragen.“ – „Ja, ja, Moment!“, meinte Lorenz. Er sah Steinbach mit großen Augen ins Gesicht: “Und was ist, wenn Lung selbst den Auftrag zur Liquidierung Herolds gegeben hat?“

„Herold ist weder tot noch verflüssigt“, wiegelte Steinbach ab. „Aber … mein Gott, Lorenz, wenn Ihre Theorie stimmt, dann werde ich zum ersten Kriminalhauptkommissar und Sie mindestens Kriminalhauptmeister! Wir sind da vielleicht einer ganz großen Sache auf der Spur!“

Mittlerweile hatte sich die Menge vor dem Haus aufgelöst. Der Kommissar schlug vor, die Anwohner der Reihe nach zu befragen. So fanden sich die Polizisten kurz darauf vor einem Fachwerkhaus am Ende der Straße wieder. Ein junger Mann kam aus dem Garten auf sie zu und fragte: „Kann ich Ihnen behilflich sein?“ – „Ja, das können Sie vielleicht“, gab Steinbach zurück. Der Mann bat sie ins Haus, das Steinbach sehr vertraut vorkam. Auch hier lagen überall Kugelschreiber herum. „Sie sammeln Stifte?“, fragte Lorenz. „Wie Sie sehen“, antwortete der Befragte, „Sie auch?“ – „Nein.“ „Mein Name ist übrigens Schweizer. Franz Schweizer. Und ich vermute, es geht um Dr. Herold.“ – „Wie recht Sie haben“, bestätigte Steinbach. „Doch zunächst eine Frage: Arbeiten Sie bei Lung?“ – „Was? Nein!“, keuchte Schweizer. „Doch nicht bei denen! Die verpesten doch bald alles hier. Geplant hatten sie ja, dass die Schadstoffe aus ihrem riesigen Kamin vom Wind davongetragen werden! Aber wir haben fast immer Südwestwind, das hatten sie nicht eingeplant, und all das Gift kommt hier und in Bayermünchen runter. Jetzt gibt die Firma Lung an, dass aus ihrem Kamin ja gar keine Giftstoffe kämen, und das Landratsamt ist total parteiisch! Das hat doch tatsächlich bei der Anhörung gesagt: Wo nichts ist, kommt auch nichts runter! Nein, ich bin beim „Gesunden Wartnachtal“ und ein guter Freund von Jonathan Herold. Bin oft zu Besuch bei ihm.“ Steinbach hörte sich die Rede gelangweilt an. Schließlich meinte er zu Lorenz: „Er war’s nicht! Ist keiner von Müllikowsky.“ Lorenz unterdessen beäugte einen blauen, alten Kugelschreiber mit der Aufschrift „Sylvapen“. Er zog den gleichen Kuli aus seiner Jackentasche. Entgeistert blickte Schweizer auf den Stift. „Sie …Sie haben den 1940 3a? Den weltersten Kugelschreiber? Ja, wissen Sie denn nicht, was der unter Sammlern wert ist?“ Lorenz sah auf seinen Kuli. „Was?“ Er dachte kurz nach, schüttelte dann den Kopf und warf Schweizer den Schreiber zu. „Ist sowieso kaputt“, meinte er und verließ den Raum.

Der Sammler starrte den Stift an, als wäre er der heilige Gral. „D…d…dank…e“, brachte er hervor. Er sah auf seinen alten alten Stift, dann auf den neuen alten Stift. In seinem Blick war ein Anflug von Reue zu erkennen, doch Steinbach dachte sich nichts dabei und ging zum Dienstwagen.

„Das war ein Reinfall. Er arbeitet nicht bei Lung, scheidet als Täter also aus“, brummte er. „Wir sollten …“ Plötzlich klingelte das Autotelefon. Ihr Chef war dran. „Steinbach“, kommandierte er, „eben hat Herold angerufen. Besuchen Sie ihn mal.“ Keine zwei Minuten später klingelte der Kommissar bei Dr. Herold. Dieser öffnete die Tür, völlig außer sich. „Endlich sind Sie da! Stellen Sie sich vor, mein wertvollster Stift wurde gestern Nacht gestohlen, der welt-erste Kuli, der …“ „Sylvapen 1940 3a?“, fragte Lorenz. „Ja, aber, w…woher wissen S…Sie…“, stotterte Herold. „Ruhig, Herr Herold! Wann haben Sie denn bemerkt, dass etwas fehlt?“, erkundigte sich Steinbach. „Vor etwa 20 Minuten. Ich hab meine Stifte geordnet und gemerkt, dass das beste Stück meiner Sammlung fehlt, und habe natürlich sofort Sie gerufen und jetzt sind Sie da.“ Lorenz nahm seine Mütze ab und legte sie weg. Er hörte nur noch „Und“. „Tja, ich würde vorschlagen, Sie kommen mit aufs Präsidium und erzählen alles noch ein Mal von Anfang an“, schlug Steinbach vor. Die drei begaben sich zum Wagen. Kurz vor der Ortsausfahrt schreckte Lorenz hoch. „Meine Mütze! Ich habe sie noch bei Herold zu Hause! Wir müssen zurück!“ Widerwillig wendete Steinbach. Herold und Lorenz betraten das Haus.

Im Wohnzimmer stand Franz Schweizer.

***

„Ich habe Jonathan schon immer um seinen Sylvapen 1940 3a beneidet“, schluchzte Schweizer. „Und dann habe ich beschlossen, ihn zu stehlen und wollte es so aussehen lassen, als wären es Leute von Lung gewesen. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Skandal und Stift! Und als mir Ihr Kollege den Stift gegeben hat, wollte ich den anderen zurückgeben und es tut mir so schrecklich leid, dass ich Jonathan wehgetan habe und …“

„Und, und, und! Jetzt fangen Sie auch noch an! Ich kann es nicht mehr hören!“, jammerte Lorenz. „Wie wäre es, wenn wir jetzt alle auf das Präsidium fahren un…, wo Sie uns alles erzählen – ganz „und“-los sozusagen?“

Steinbach und Lorenz erkannten ihr Präsidium nicht wieder. Die ganze Straße war in Dunkelheit gehüllt, das Gebäude eine rauchende Ruine. Feuerwehrleute versuchten, die letzten Flammen zu ersticken. Einer trug den verschmorten Wasserspender auf die Straße, was Lorenz sehr betrübte. Herold und Schweizer tuschelten aufgeregt miteinander. Aus den Rauchschwaden kam Steinbachs Vorgesetzter auf den Wagen zu gerannt. Sein Gesicht war leichenblass, doch seine Augen kündeten von wahrem Zorn. „Lorenz, Steinbach“, keifte er, „Ihre Beförderungen können Sie vergessen! Sie haben unser Präsidium abgefackelt! Auch den Schrank mit meiner geliebten Kugelschreiber-Sammlung!“ Herold und Schweizer verstummten. „Grinsen Sie nicht so unverschämt, Lorenz! Angefangen hat die Katastrophe mit einem Brand in Ihrem Büro!“

„Die Müllverbrennung“, stöhnten Steinbach und Lorenz.

Markus Friesenegger, 12 Jahre, 9. Klasse

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