Mit dem Rücken zur Wand – Expertengespräch zur Zukunft des öffentlichen Nahverkehrs

Die Region München wächst bis 2030 um voraussichtlich 330.000 Einwohner, das entspricht der Einwohnerzahl von Augsburg und Landshut zusammen. Gebannt starren Planer, Politiker, Bürger in München auf die Wachstumsprognosen. Wo die Neubürger wohnen sollen, das stand bislang im Mittelpunkt der Überlegungen. Mit einiger Verzögerung rückt jetzt eine andere Frage ins Blickfeld:Wie bewegen sich diese Menschen in der Stadt und der Region? Wann fahren sie wohin? Welche Bedeutung kommt dabei dem öffentlichen Nahverkehr in München zu, darüber diskutierte Ulla Ammermann am 08.12.2014 mit ihren drei Studiogästen in der monatlichen Radiosendung des Münchner Forums auf Radio Lora 92,4.

Ins Studio gekommen waren Dr. Michael Droß,wissenschaftlicher Referent am Munich Center for Technology in Society, Technische Universität München (TUM), Matthias Hintzen vom Arbeitskreis Attraktiver Nahverkehr (AAN) im Münchner Forum und Helmut Steyrer, Architekt, ehemaliger Münchner Stadtrat und Programmausschussvorsitzender des Münchner Forums.

Volle Züge, schwarze Löcher

Staus auf den Straßen, übervolle Regionalzüge und U-Bahnen, Gedränge auf dem Radweg. Überlastungen der Verkehrswege gehören in München inzwischen zum Alltag. Schon mit der heutigen Einwohnerzahl von fast 1,5 Millionen steht die Landeshauptstadt oft am Rande des Verkehrszusammenbruchs. Angesichts von Prognosen, die für die gesamte Region ein Wachstum um 330.000 Einwohner erwarten lassen, besteht dringend Handlungsbedarf, findet Michael Droß, Regionalplaner an der TUM. Dabei hätte München gute Voraussetzungen, damit der Verkehr geschmeidiger und vor allem vernünftiger läuft als bisher. Die Stadt ist innerhalb des Mittleren Rings sehr kompakt bebaut, geeignet zum Zufußgehen und Radfahren auf kurzen Strecken. Die so oft gepriesene Stadt der kurzen Wege ist in diesem Bereich Münchens eigentlich schon da – eigentlich, denn zugleich sind Radfahren und Zufußgehen auch auf kurzen Strecken häufig eine Tortur.

Lärm durch den Autoverkehr, unattraktive Straßenräume, durch die Verkehrsführung erzwungene Umwege anstatt der direkten Linie sind an der Tagesordnung, stellt Droß fest. Dazu kommt noch eine wachsende Konkurrenz um den begrenzten Straßenraum. Die größten Flächenreserven der Stadt sieht Droß in den Straßenräumen selbst – und die werden heute noch überwiegend vom Auto besetzt. Eine Verdichtung kann nur funktionieren, wenn die bestehenden Straßenräume in ihrer gesamten Ausdehnung besser genutzt werden. Für Michael Droß heißt das: der Fuß- und Radverkehr muss den Raum bekommen, den er braucht. „Gebt den Menschen die Straßen zurück“, ist sein Appell. Damit kann auch ein positiver Dominoeffekt für die Stadtentwicklung angestoßen werden: Erdgeschosszonen, bislang durch den Autoverkehr verlärmt und unattraktiv, können sich wieder zur Straße hin öffnen, Leben kehrt ein, wo es bisher um Abschottung ging, lebendige Erdgeschosszonen machen für langsame Verkehrsteilnehmer, also Fußgänger und Radfahrer, die Bewegung in der Stadt reizvoller.

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Wie aber bereitet sich die Stadt auf das bevorstehende Bevölkerungswachstum vor? Für den Bau von
Wohnungen, Gewerbeflächen und öffentlichen Gebäuden hat das Planungsreferat der Landeshauptstadt
im Jahr 2009 das Projekt „LaSie“ gestartet, eine groß angelegte Untersuchung zur langfristigen Siedlungsentwicklung. Durchaus sinnvoll – allerdings ohne Konsequenzen für die Verkehrsplanung, beklagt der Architekt und ehemalige Münchner Stadtrat Helmut Steyrer. Ein „schwarzes Loch“ ist für ihn die Münchner Verkehrsplanung. Abgesehen von einigen geisterhaften Tunneldiskussionen rund um den Mittleren Ring gibt es nach seiner Einschätzung keinen Ansatz, die Prioritäten auf den Münchner Straßen neu zu setzen. Bei einer Verdichtung der bestehenden Stadtviertel wird der Straßenraum nicht größer, die Konkurrenz um den knappen Straßenraum steigt. Gefragt ist hier die Kommunalpolitik, die eine Priorität zugunsten von Fußgängern und Radfahrern setzt. Eine Nachverdichtung bestehender Stadtquartiere wird mit der bisherigen Verteilung der Straßenräume nicht funktionieren, ist Steyrers Fazit. Für dramatisch hält er das, was auf München in den nächsten zwei Jahrzehnten zukommt. Selbst wenn sich München für den Bau neuer U-Bahn- und Trambahnstrecken und für den Ausbau des Radwegenetzes entscheiden sollte: die Planungslaufzeiten sind mit zehn bis 15 Jahren viel zu lang, um den Kollaps noch abwenden zu können. Hier ist München schon zu spät dran und wird von der Welle der Zuzügler überrollt werden. Es geht heute, glaubt Steyrer, nur noch darum, für die Zeit nach der großen Welle zu planen, damit der Kollaps nicht zum Dauerzustand wird.

Dichte als Chance

Dass eine hohe Dichte aber nicht generell ein Nachteil sein muss, sondern ein großer Vorteil sein kann, ist für Matthias Hintzen vom AAN besonders wichtig festzuhalten. Er kritisiert die aus seiner Sicht erstaunlich niedrigen Dichten in den aktuellen Münchner Stadtentwicklungsgebieten. An der ehemaligen Funkkaserne in Schwabing-Nord hätten die Neubauten zum Teil nur drei Obergeschosse, wo auch problemlos fünf oder sieben möglich gewesen wären. Erst eine höhere Dichte macht aber U-Bahnen und Trambahnen in diesen Stadtquartieren wirtschaftlich, bei einer geringeren Dichte steigt die Gefahr, dass die Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz nicht eben attraktiv gerät. Leider, so Hintzen, wird dieser Planungsfehler gerade im Münchner Westen, in Freiham, wiederholt. Die Stadt der kurzen Wege lebt von einer hohen Dichte. Doch es gibt Denkblockaden in der Stadtentwicklung. Das Bedürfnis nach Niedlichkeit in der Münchner Baupolitik verhindert eine angemessene Antwort auf das Bevölkerungswachstum. Das Fazit von Matthias Hintzen fällt daher vernichtend aus: Siedlungsentwicklung und die Planung des Öffentlichen Verkehrs stehen in München vollkommen beziehungslos nebeneinander.

Keine Verzichtsdebatte

Die Art, wie eine veränderte Verteilung des Straßenraums wahrgenommen wird, ist für Helmut Steyrer der Schlüssel zum Erfolg einer „Verkehrswende“. Keine Verzichtsdebatte, sondern eine Gewinndebatte. Weniger Autos auf den Straßen bedeutet mehr Lebensqualität für die Menschen in der Stadt, weniger Stellplätze bei Neubauten bedeuten deutlich niedrigere Baukosten und damit auch günstigere Mieten und Kaufpreise. Ein Tiefgaragenstellplatz kostet in der Herstellung bis zu 40.000 EUR. Wenn die Stadt selbst als Bauherr auftritt, könnte sie dieses Geld viel sinnvoller für andere Projekte einsetzen, ist Steyrer überzeugt. Dabei kommt der Stadtplanung ein großer Trend entgegen: Viele junge Erwachsene wollen gar kein eigenes Auto mehr besitzen, für sie heißt es „Nutzen statt besitzen“. In den siebziger Jahren, in denen ein Auto noch Statussymbol und Mittel zur Selbstdarstellung war, wäre eine „Verkehrswende“ viel schwieriger gewesen. Heute, wo für die junge städtische Bewohnerschaft ein Auto nur Mittel zum Zweck ist, bietet dies die Chance zu einer pragmatischen ideologiefreien Debatte, ist Steyrers Hoffnung.Auf den Prüfstand gehört seiner Meinung nach der Stellplatzschlüssel der Landeshauptstadt München,der momentan noch den Bau mindestens eines Parkplatzes für jede neu gebaute Wohnung fordert. Ohne Stellplatzpflicht würde auch die heutige Normalwohnform „Zwei Zimmer, Küche, Auto“ entfallen und damit auch der Anreiz, sich tatsächlich einen Wagen in die Tiefgarage zu stellen.

Richter machen Verkehrspolitik

Regelmäßig werden in München die von der EU festgesetzten Luftschadstoffgrenzwerte überschritten, sowohl bei Feinstaub als auch bei Stickoxiden und Schwefeloxiden. Während der Zweite Bürgermeister Josef Schmid (CSU) die EU-Grenzwerte schlicht für unrealistisch hält und deshalb weitermachen will wie bisher, bahnt sich ein drastischer Einschnitt an: Die Regierung von Oberbayern prüft ein völliges Fahrverbot innerhalb des Altstadtringes, wenn die Grenzwerte künftig nicht eingehalten werden. Dieses Szenario sieht Michael Droß für noch wesentlich größere Teile Münchens kommen. Neben Behörden werden dann auch Gerichte Fahrverbote für den motorisierten Individualverkehr durchsetzen, falls die Landeshauptstadt nicht selbst Abhilfe schafft. Droß empfiehlt daher: bevor Gerichte den Verkehr in München neu ordnen, sollten es die Münchner selbst in die Hand nehmen.

Zahnlose Regionalplanung

Beim Blick auf die Verkehrsentwicklung in der gesamten Region München dominiert bei allen Studiogästen die Skepsis. Bislang gibt es in der Verkehrsplanung keine Abstimmung der Landeshauptstadt mit den Landkreisen und Gemeinden in der Region. Den Grund für diesen Mangel sieht Michael Droß in einer zahnlosen Regionalplanung. Die Städte und Gemeinden rings um München zeichnen sich durch höchst unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten aus, manche liegen günstig direkt an Regionalbahn und S-Bahn-Strecken, andere eher abgelegen zwischen den großen Verkehrslinien. Seine eigentliche, vom Gesetz vorgegebene Rolle eines Koordinators der Siedlungsentwicklung nimmt der Regionale Planungsverband aber nicht wahr. Mit dem unvermeidlichen Hinweis auf die kommunale Planungshoheit entwickeln sich die Gemeinden ohne Abstimmung auf die Bedürfnisse der gesamten Region. Das geht auch anders, meint Droß. Hier könnte der Freistaat mit dem goldenen Zügel regieren. Beispielhaft findet er die Regionalentwicklung in Nordrhein-Westfalen. Dort habe die rot-grüne Landesregierung seit 2012 über die Städtebauförderung den Wohnungsbau nur dort gefördert, wo leistungsfähige öffentliche Verkehrsmittel in der Nähe sind.

Dass eine städtische, dichte Form der Bebauung auch außerhalb Münchens dringend angebracht ist, war das abschließende Plädoyer von Matthias Hintzen. Eine Stadt wie Fürstenfeldbruck, die nach dem Rückzug der Bundeswehr über eine riesige Konversionsfläche auf dem ehemaligen Fliegerhorst verfügt, muss die Chance nutzen und kompakt und dicht bauen. Sonst besteht die Gefahr, dass sich angesichts des rasanten Bevölkerungswachstums die gesamte Region in einen riesigen Siedlungsbrei verwandelt. Richtige Freiflächen für die Erholung gibt es dann keine mehr.

Dieser Artikel von Michael Schneider erschien in der Februar-Ausgabe von Standpunkte, ein Magazin vom Münchner Forum

 

Bildquelle: Craig Sunter



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