Die Bürger müssen einen Unersetzlichen ersetzen

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Der Solarkönig ist abgetreten – ein Sonnenprinz ist nicht in Sicht. Jetzt muss das Volk selber regieren. Im Schauspielhaus der Kammerspiele diskutierten am Sonntag unter anderem ein Physiker, ein Politiker und ein Philosoph über das Erbe des im Oktober verstorbenen Hermann Scheer. Um drohenden Konflikten und Katastrophen zu entkommen, sehen Vordenker Peter Sloterdijk, der Grüne Sven Giegold und der Fachbereichsleiter des Umweltbundesamtes, Harry Lehmann, am Ende nur einen Ausweg: den regionalen Alleingang der Bürger.

„Es gibt kein Recht, nur solchen Problemen zu begegnen, die man mit Bordmitteln lösen kann“, dieses Zitat Peter Slotderdijks packt Moderator Mathias Greffrath dem Publikum gleich zu Anfang ins Gepäck.

In dem Talk, der die Thesen aus Scheers letzten Buch „Der energEthische Imperativ“ kritisch hinterfragt und weitgehend für gelungen befindet, wurde deutlich: es geht bei der ganzen Sache um mehr als nur eine neue Form der Energieversorgung. Es geht auch um eine Entscheidung über die Gesellschaft, in der wir leben wollen. Es geht um das Maß an Demokratie und Autonomie, das wir wünschen – und dem wir gerecht werden müssen. Zentral oder dezentral? – das ist eben eine Frage mit viel Sprengkraft. Vor allem für die „Altversorger“, wie man auf dem Podium die heutigen Energiekonzerne gerne nennt.

Dass der Menschheit nur noch wenige Jahre bleiben, um eine noch nie da gewesene Katastrophe zu verhindern, muss auf dem Podium niemand mehr betonen. Das Publikum weiß Bescheid. Neu ist ihnen wohl nur die Verantwortung, die auf sie zukommt: Die These Hermann Scheers, dass nur die Bürger selbst das System umstülpen können – nämlich von unten, ist eine dramatische Bankrotterklärung für die politisch Handelnden und dennoch findet sie erschreckend einhellige Zustimmung auf dem Podium.

Technisch ist die Energiewende längst machbar. Inzwischen werden 100-Prozent-Szenarien sogar von McKinsey in Euro vorgerechnet. Bis 2050 sei ein kompletter Verzicht auf fossile Energieträger demnach nicht nur erreichbar, sondern auch kostengünstiger, zitiert Zeit-Reporterin Christiane Grefe die Unternehmensberater.

In Hessen hätte sich für Scheer im vergangenen Jahr fast die historische Chance ergeben, seine Vision zur Erneuerbaren Energie Realität werden zu lassen. Unter Ypsilanti hätte er die Region zum Musterland der Erneuerbaren machen wollen. Viele hatten keine Zweifel, dass es ihm gelungen wäre. Auch seine Gegner nicht. Das Scheitern der Regierungsbildung wurde von vielen Seltsamkeiten begleitet. So kann sich Sloterdijk seine Bemerkung nicht verkneifen: „Ich weiß bis heute nicht genau, ob die Demontage Ypsilantis nicht eine Auftragsarbeit der Kräfte gewesen ist, die das Experiment nicht gern gesehen hätten.“

Die politischen Praktiker Giegold und Lehmann betonen, dass heute die Weichen gestellt werden, für das Leben im postfossilen Zeitalter. Der jetzigen Generation kommt demnach eine Verantwortung zu, wie sie vielleicht noch keine Generation zuvor tragen musste. Es steht nicht nur die Bewohnbarkeit eines Planeten auf dem Spiel, sondern es wird zugleich das Fundament des postfossilen Wirtschaftssystems gegossen. Und wenn das Fundament einmal steht, dann baut man entsprechend weiter.

„Wir haben hier einen elementaren Interessenkonflikt“, postuliert Grefe. Der aktuelle Strukturwandel sei nicht ohne Verlierer denkbar. Entsprechend hätten die großen Konzernen drei „Verlangsamungsstrategien“ herausgebildet: die Atomkraft als „Brückentechnologie“, Emissionshandel als „bürokratischen Ablasshandel mit absurden Konsequenzen für den Klimaschutz“ und Offshore-Windanlagen und Supergrits als Methode, um Zeit zu gewinnen.

Die Podiumsgäste sind sich einig, der Energiewandel soll den Shareholder-Values durch einen Citizen-Value setzen. So könne das Energiepotential auch den Abschied von herrschenden Oligopolen bedeuten.

Philosoph Sloterdijk betont die Brisanz der Situation. „Wir sind gegenüber der Natur so mächtig geworden, dass wir eine gemeinsame Geschichte bekommen.“ Scheer habe deutlich gemacht, dass wir gar nicht so viel Zeit haben, wie wir immer dachten. Das Novum sei, dass die Folgen aus 200 Jahren Industrialisierung noch immer als Partikel in der Atmosphäre vorhanden sind. Scheer sei angesichts der Bedrohungslage für unseren Planeten einer der wenigen „wirklich Erwachsenen“ gewesen. Erwachsen in dem Sinne, dass er in der Lage war, angesichts des Gesundheitszustandes des Patienten Erde eine Prioritätenliste aufzustellen.

Wie ein Wallraff, der sich vor einem Gerichtsgebäude angekettet hat, habe Scheer für die Erneuerbaren gekämpft, sagt Sloterdijk. „Jetzt stehen wir vor der peinlichen und unangenehmen Aufgabe, einen Unersetzlichen ersetzen zu müssen. Und das macht uns Kopfzerbrechen.“

Wie es soweit kommen konnte, will Moderator Greffrath immer wieder wissen: „Was hindert uns daran, zu handeln?“ Sloterdijk gibt mit William James „Sick Soul“-Motiv einen sozialpsychologischen Erklärungsversuch an die Hand. Demnach sei der moderne Mensch eine multiple Persönlichkeit, die unter mehreren Regisseuren die Widersprüche des eigenen Handelns ganz gut unter einen Hut bringen könne. Nur in seltenen Fällen gebe es Menschen, die eine wirksame Zentralinstanz aufbauen, der sie alles unterordnen. Wie bei einem Alkoholiker, der plötzlich aufhört zu trinken und zum hochmotivierten Sozialaktivisten wird. „So etwas brauchen wir, um uns von unserem energethischen Alkoholismus zu befreien“, murrt Sloterdijk unter dem Applaus der Zuhörer.

Warum sich die Politiker so schwer tun, die wichtigen Schritte einzuleiten, versucht Sven Giegold zu beantworten. Der Mitbegründer von attac-Deutschland sitzt für die Grünen im Europaparlament. Seine Antwort war vorhersehbar: Den Politikern fehle die Mehrheit für eine konsequente Energiewende. „Da sind wir wieder bei der Verlangsamungsstrategie der mächtigen Energieversorger“, so Giegold. „Hinter der Blockadehaltung einiger Politiker stehen mächtige Interessengruppen.“

Und Giegold bezeichnet sich gerne als „bekennender Hermannianer“, wenn er als einzigen Ausweg aus dem Lobbyisten-Dilemma eine breite Volksbewegung von unten sieht: „Wir sind mehr als die großen Energieversorger und ihre Büttel.“

Zugleich warnt Giegold vor Frontenbildung: „Wir dürfen die große Industrie nicht verteufeln“. Hier betont Giegold seine konträre Haltung zum Polarisierer Scheer. „Wir dürfen keine Weg aufgeben, das Problem ist viel zu gefährlich“, pflichtet ihm Lehmann bei.

Als große Gefahr sieht der Mann aus dem Umweltbundesamt die drohenden Verteilungskämpfe zwischen dezentralen und zentralen Energieversorgern. Auch Giegold warnt vor kommenden Konflikten: Vor allem bei dem Großkonflikt um den Einspeisevorrang für Erneuerbare sind die Politiker gefordert, standhaft zu bleiben. „Das alte System wird versuchen, diesen Vorrang der Erneuerbaren zu kippen“, warnt Giegold. Für Lehmann verbindet sich die Gefahr mit einer Forderung: „Es geht um die Frage, wem gehören die Netze?“ Für ihn gibt es nur eine richtige Antwort: „Die Netze gehören in Bürgerhand“

Eine Gefahr sieht der Physiker auch in den umstrittenen Großprojekten wie Desertec. Die enormen Investitionen dieser gewaltigen Solarparks in Afrika würden sich für die beteiligten Unternehmen nur dann lohnen, wenn es Abnahmegarantien für den produzierten Strom gebe. Eine solche Mindestmenge würde dann aber zugleich eine Schwächung der dezentralen Versorgung bedeuten. Dieser Systemzwang war einer der Gründe, weshalb Scheer stets gegen die vermeintlich gute Energie aus den Desertec-Anlagen gewettert hat.

90 Prozent der Deutschen wollen laut Umfragen umweltbewusst leben, „nur zehn Prozent tun es“, sagte Lehmann. Wie es gelingen kann, dass eine veränderte Einstellung endlich zu einem veränderten Handeln führt, wurde unterschiedlich beantwortet. Sloterdijk zeigte sich wenig romantisch: „Wir funktionieren unter Zwang besser als in der Freiwilligkeit“ . Der Mensch sei so schwer erziehbar, dass er stets eine so genannte „Warnkatastrophe“ als „sonderpädagogische Maßnahme“ brauche.

Lehmann und Giegold waren hier optimistischer: Sie hoffen auf eine Dynamik des Wollens: „Umweltschutz beginnt viel zu oft mit der Erziehungsnummer“, beklagte Lehmann. Man müsse die Initiativen raus holen aus dem Oberlehrerhaften hin zu dem Gemeinschaftsgefühl, etwas erreichen zu wollen.

Auch wenn die Politik die richtigen Rahmenbedingungen schaffen müssen, der erste Schritt liegt immer beim Bürger. Das Fazit der Experten: Nur in lokalen Alleingängen kann die notwendige Energiewende erreicht werden. Mit Blick auf Cancún „wo ein schlechter schwacher und unzulänglicher Kompromiss bereits als Erfolg gefeiert wird“ (Grefe) fand Sloterdijk dafür wiedermal einen anschaulichen Aphorismus: „Konferenzen auf G-20 und UN-Ebene sind ein Pendant zur Querschnittslähmung“. Die gegenseitige Hemmung könne nur durch eine gewagte Politik des Vorangehens einiger überwunden werden, so Sloterdijk.

Entsprechend tragisch bewerten alle, dass Scheer die Möglichkeit versperrt blieb, in Hessen seine Energiewende exemplarisch umzusetzen. Sloterdijk mahnte: „Es muss in einer sehr baldigen Zeit zu einer Demonstration kommen, dass es klappen kann“. Anzeichen dafür sieht der Philosoph jedoch nicht: „Im Augenblick regieren die Ja-Aber-Politiker.“ Und die großen Konzerne erinnern ihn mit ihren Green-Washing-Kampagnen an das Agieren der britischen Regierung, „die der EU beitritt, um sie besser zu verhindern“.

So bleibben die Zuhörer an diesem Sonntagmittag mit dem unguten Gefühl zurück, dass es viel zu tun gibt, man es aber nicht der Politik überlassen kann. Regionalen Pilotprojekten kommt in einer dezentralen Energiezukunft naturgemäß eine viel größere Bedeutung zu, als es sich bisher wohl viele klargemacht haben.

Die Ankündigung der Landeshauptstadt München, die eigenen Haushalte bis 2025 zu 100% mit Erneuerbaren Energien versorgen zu können, nehmen die Podiumsgäste dabei durchaus als Indiz dafür war, dass München die Vorreiterrolle in der regionalen Energiebewegung übernehmen könnte.

1 Kommentar zu “Die Bürger müssen einen Unersetzlichen ersetzen”

  1. christiane grefe sagt:

    Kleine Korrektur: ich habe über Cancun gesagt, dass dort ein SCHWACHER UND UNZULÄNGLICHER Kompromiss beschlossen, nicht ein schlechter… Ist ein Unterschied.

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