Ebbe in der Kornkammer

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Angesichts wohl gefüllter Regale in unseren Supermärkten kaum vorstellbar, aber die Zeiten einer gesicherten Welternährung gehen zu Ende. Eine Leseprobe aus Wilfried Bommerts neuem Sachbuch „Kein Brot für die Welt“.

New York in der Suppenküche

Mai 2008. Die Wolkenkratzer glitzern in der Abendsonne. In einer der reichsten Städte der Welt, im Finanzzentrum der Industriestaaten wurden Milliarden bewegt, gekauft und verkauft und Millionen verdient. Unten in den Schluchten Manhattans stehen Menschen in einer Schlange auf der Straße vor einer Tür, dahinter eine von vielen Suppenküchen.

Dort verteilen freiwillige Helfer Obst, Joghurt, Wurst und Brot, alles, was die Supermärkte nicht verkaufen konnten, was sein Verfallsdatum erreicht hat. Und Suppe. Ihre Kundschaft wächst. Woche für Woche stehen mehr New Yorker Schlange, um satt zu werden. Die New Yorker Food Bank versorgte im Jahr 2007 bereits 1,3 Millionen Menschen, die zu wenig zum Leben hatten. Im Frühjahr 2009 haben sich die Schlangen deutlich verlängert. Etwa drei Millionen, mehr als ein Drittel der Bevölkerung der Stadt, sind arm. Viele sind auf kostenlose Mahlzeiten in Suppenküchen angewiesen.

Den Sturz aus einem bequemen Apartment am Times Square in die Obdachlosigkeit musste auch Karl McKinnie erleben. Nachdem er seinen Job bei einer Internetfirma verloren hatte, landeten er und seine Freundin plötzlich auf der Straße. Jetzt stehen beide vor einer Kamera des deutschen Fernsehens und schildern, wie sie vom Absturz überrascht wurden. Sie sind sich sicher, dass dieses Schicksal jeden in Amerika treffen kann. Die Mittelklasse stürzt ab, der Höhenflug der Lebensmittelpreise und der Niedergang der Boomindustrien macht sie zu Bedürftigen. Innerhalb von fünf Jahren, so die Food Bank, seidie Zahl der Bedürftigen in New York, die sich ihr täglich Brot nicht leisten können, um eine Million gewachsen. Die Weltfinanzkrise wird ihre Zahl weiter nach oben treiben.

Das ist auch in Berlin nicht anders. In Deutschland essen mittlerweile schon 700 000 Menschen Suppe und Brot von der Resterampe der deutschen Supermärkte. Ihre Zahl wächst und gleichzeitig wird das, was sie aus den Abfallcontainern der Wohlstandsgesellschaft fischen können, immer weniger. Auch die Lebensmittelkonzerne schauen  auf den Euro, Abfall ist schlecht für den Gewinn. An den Tischen der »Tafeln« sitzen nicht nur Alte oder Abgestürzte. Auch Kinder, ganze Familien kommen, um ihren Brotkorb aufzufüllen, den sie selbst nicht mehr füllen können, weil alles zu teuer geworden ist: das Brot, das Öl, das Gas, der Strom und die Fahrkarten. Wer vor drei Jahren noch so eben über die Runden kam, kommt heute nicht mehr alleine weiter. Er ist auf die »Tafel« und andere Hilfe angewiesen. Die galoppierenden Preise beim Notwendigsten treiben die, die an der Schwelle zur Armut stehen, gänzlich hinein. Es sind vor allem Familien mit Kindern, wie der deutsche Armutsbericht 2008 verrät. Auch die sogenannte Mittelschicht kann sich bei dieser Inflation der Grundlebensmittel nicht halten, sie stürzt ab. Die Angst vor der Armut hat auch die Häuslebauer erreicht.  Was die reichen Länder im Jahr 2008 lieber verstecken würden, können die armen Staaten nicht mehr verbergen.

Haiti – Hunger macht Wut

Haiti, April 2008: In der Hauptstadt Port-au-Prince und anderen Städten der Insel Haiti ziehen Banden mit Knüppeln und Steinen bewaffnet durch die Straßen. Schwarzer Qualm beißt in den Augen, Feuer lodern, Straßenbarrikaden aus abgerissenen Blechdächern und Tonnen, die Schaufenster eingeschlagen, Regierungsbüros und die Villen der Reichen werden geplündert.

Es geht um Essen, die Menschen hungern, die steigenden Lebensmittelpreise sind schuld an ihrem Elend und an ihrer Wut. Haiti ist das ärmste Land Mittelamerikas. Korruption, Machtmissbrauch und Gewalt sind an der Tagesordnung. Die Lebensmittelpreise sind innerhalb von vier Wochen um fast 50 Prozent gestiegen. 80 Prozent der haitianischen Bevölkerung müssen mit weniger als 1,30 Euro pro Tag auskommen. Sie leben unter der Armutsgrenze.

»Die Menschen können sich schon lange nicht mehr ausreichend ernähren«, schildert ein Korrespondent die Lage. »Manche essen sogar Sand. Es kursieren Rezepte, wie man aus einer Art Heilerde, Fett, Salz und Wasser Kekse backen kann.«

Ein Appell des Präsidenten hat die Unruhen in Haiti nicht stoppen können. In Port-au-Prince und anderen Städten beherrschen bewaffnete Banden die Straßen. Ausnahmezustand. Haiti ist kein Einzelfall, in vielen Staaten, die von importierten Lebensmitteln abhängig sind, drohen Aufstände. 54 Länder, die den Hunger bereits spüren, hängen am Tropf der Weltgetreidewirtschaft, sie leben von Importen und müssen die Preisspirale an den Nahrungsmittelmärkten ertragen. Die Welt war darauf nicht vorbereitet. Der Hunger macht sich breit, weltweit, und er fordert Gerechtigkeit. Wie konnte es so weit kommen?

Die Ursache für das Drama, das sich zurzeit weltweit abzeichnet, ist – wie so oft bei Katastrophen – ein unglückliches Zusammentreffen mehrerer Triebkräfte, die auf den ersten Blick, jede für sich genommen, gar nichts miteinander zu tun haben. Zusammen aber führen das Ende der Nahrungsmittelreserven, das »Allzeithoch« beim Ölpreis, der Hunger auf Biosprit, der Fleischkonsum in China und Spekulationen an der Getreidebörse in Chicago zu einem höchst explosiven Gemisch.

Vom Schlaraffenland in die Krise

Vor Jahrzehnten, nach dem Zweiten Weltkrieg, galt Hunger in den westlichen Industriestaaten als ein lösbares Problem. Über kurz oder lang sollte er besiegt sein. Das war in den Zeiten des Überflusses. Da herrschte in Europa eine Art Schlaraffenland. Berge von Butter und Getreide, Seen voll Milch und Wein, in den Kühlhäusern stapelten sich Rinderhälften bis zur Decke, und ein Zuckerberg versüßte allen das Leben. Das war Überfluss, doch er wurde von den Menschen nicht so wahrgenommen. Für die Politiker war es eine Last, die sie gerne loswerden wollten. Eine Last, die sie sich selbst eingebrockt hatten.

Begonnen hatte es am 25. März 1957 in Rom. Im Prunksaal des Capitols warten die im europäischen Blau bezogenen Sessel auf die sechs Regierungsdelegationen. Auf den Rückenlehnen leuchtet der Sternenkranz Europas, auf dem Tisch liegt, in Leder gefasst, das Dokument, das Geschichte machen sollte, die Römischen Verträge. Was noch fehlt, sind die sechs Unterschriften der Vertreter Belgiens, Westdeutschlands, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs und der Niederlande. Nachdem das Kratzen der Federhalter verstummt und die Tinte getrocknet ist, hat Europa eine neue Form  bekommen, es ist eine Wirtschaftsgemeinschaft mit begrenzter Haftung.

Den damaligen deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer und den französischen Präsidenten General de Gaulle trieb die Idee um, den kurzen Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg politisch abzusichern. Der Kitt für Europa sollte ein gemeinsamer Markt zum gegenseitigen Nutzen sein. Eine Art Tausch- oder – wie sich später herausstellte – Kuhhandel. Auf dem gemeinsamen Markt sollten Getreide, Milch und Fleisch gehandelt werden. Das war zunächst einmal im Interesse Frankreichs, das als Agrarland zur Speisekammer im neuen Europa aufsteigen wollte. Aber auch im Interesse Deutschlands, das Kundschaft für seine Eisen- und Stahlindustrie und seine Automobilschmieden brauchte. Es war tatsächlich eine Art Tauschhandel: Weizen gegen Wagen. Und weil hinter dem Weizen die Bauern und damit nicht zuletzt die Wähler der französischen Regierung standen, wurde der Getreidepreis auf hohem Niveau festgelegt, mit dem Ziel, ihn auf Dauer weiter steigen zu lassen. Das gefiel nicht allen Zeitgenossen. Hermann Bohle, der Brüsseler Korrespondent der Zeit, witterte dahinter bereits 1966 den Beginn einer Preisspirale, die die Europäer teuer zu stehen kommen sollte. »Was auf die 180 Millionen EWG-Europäer zukommt, zeigt eine Zahl: Der EWG-Weizenpreis liegt um 60 Prozent über dem Weltmarktniveau. Die Folgen sind verheerend, weil die Bauern des Gemeinsamen Marktes, namentlich aber in Frankreich, nun erst recht Weizen anbauen werden, von dem die Europäische Gemeinschaft ohnehin schon zu viel produziert.«

Der Weizenpreis in Frankreich stieg um 30 Prozent. Das brachte Geld in die Kassen der Bauern und für Deutschland einen großen Markt für Exporte »made in Germany«. Das wiederum bescherte den deutschen Arbeitern an den Fließbändern ein sattes Einkommen, nicht nur in der Autoindustrie. Auch Zulieferer profitierten und am Ende die gesamte Wirtschaft in der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

So weit das Positive; das Negative lag darin, dass die höheren Preise die Landwirte ermunterten – und das nicht nur in Frankreich – von Jahr zu Jahr mehr aus ihren Äckern und Ställen herauszuholen. Und alles, was nicht in den europäischen Küchen verbraucht wurde, musste, so war es beschlossen, zu einem festen Preis von der Europäischen Gemeinschaft aufgekauft werden. Die Landwirtschaftsminister beschlossen Lager- und Tiefkühlhallen einzurichten, um die Überschüsse aufzufangen. Zunächst galten sie als Vorrat für eine eventuelle Missernte, die dann alles wieder hätte verschwinden lassen. Aber die Missernte kam nicht, im Gegenteil, die Ernten wurden immer größer und die Berge und Seen auch. Eine fast alpine europäische Agrarlandschaft entstand. Und um die Lager vor dem Bersten zu schützen, wurde exportiert, egal wohin auch immer und zu welchem Preis auch immer. Die Vorräte mussten schließlich weg. Die Exportpreise wurden subventioniert, teilweise bis unter die Herstellungskosten.

Mit diesen Exporten verdarben die Europäer weltweit die Preise. Wo die europäischen Frachter und Kühlschiffe anlegten, war ein Preisrutsch für die heimische Landwirtschaft die Folge. Das heimische Getreide konnte gegen die Billigimporte aus Europa nicht antreten. Ganze Rinderherden blieben in der Savanne, weil sich kein Abnehmer mehr fand. Die Städte wurden von Europas Überflüssen ernährt, die zu Spottpreisen auf die Märkte kamen. Für viele afrikanische Bauern bedeutete das den wirtschaftlichen Ruin: Kollateralschäden des europäischen Schlaraffenlandes.

Das machte böses Blut und erzeugte politischen Gegenwind. Der entscheidende Schlag gegen die europäische Überschusspolitik wurde von Amerika geführt. Das Land hatte die Vision, mit seinen riesigen Äckern und Weiden die Welt zu ernähren, zumindest mit seinen Exporten den Weltmarkt zu beherrschen. Dabei waren ihm die europäischen Dumpingpreise im Wege, und so wurde Druck gemacht gegen Europa bei der Welthandelsorganisation. Sie drängte auf Abschied vom Schlaraffenland und ein Ende der verbilligten Agrarexporte. Die Europäische Kommission lenkte ein und dirigierte die europäische Landwirtschaft langsam in eine andere Richtung. »Weg mit den Bergen«, hieß die politische Devise, kein Geld mehr für den Export der Überschüsse. Das hatte Wirkung. Ab 1998 schmolzen die europäischen Getreide-, Fleisch- und Butterlager von Ernte zu Ernte weiter zusammen. Von 16 Millionen auf acht Millionen Tonnen, also um die Hälfte. Noch mehr in Deutschland, hier blieb von acht Millionen nur noch ein Rest von zwei Millionen Tonnen im Jahr 2006 übrig. Im April 2008 waren die Lager fast leer.

Da schrillten in Brüssel plötzlich die Alarmglocken. Die Reserven der Europäischen Gemeinschaft reichten nicht einmal mehr für dreißig Tage. Aufregung machte sich breit im Palast der Agrarverwaltung in der Rue de la Loi. Die Agrarkommissarin Mariann Fischer Boel, seit 2004 im Amt und von einem dänischen Hof stammend, schlug die Flucht nach vorn ein…

Weiterlesen kann man in Wilfried Bommerts „Kein Brot für die Welt – Die Zukunft der Welternährung“ (Riemann Verlag). Das Buch kostet 19 Euro 95. Heute Abend, am 7. Mai, liest Wilfried Bommert in der Schweißfurth-Stiftung. (Siehe Ankündigung.)

Foto: Jan Strohdiek / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz

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