Grüne Großstadt

Um Punkt sieben Uhr zwanzig schaltete sich der Wecker in Jimohs Zimmer ein. Er ging niemals falsch. Schließlich bezog er die Information, wie spät es war, aus dem Internet. Das Gerät zog mit Hilfe der eingebauten Fernsteuerung die Fensterverdunkelung auf. Sonnenstrahlen fielen auf seine mit Solarzellen bedeckte Oberfläche. Sie gaben ihm die Kraft seine Hauptaufgabe zu erfüllen: Den fünfzehnjährigen Jimoh zu wecken. Der Wecker erhob sich in die Luft, flog zu Jimohs Bett hinüber und landete auf dem Bauch des Jungen. „Morning has broken…“, stimmte er an. Jimoh tastete nach dem Ruhestörer, schlug die Augen auf und brachte den Wecker zurück an seinen Platz auf dem Fensterbrett. Mit einem leisen Klicken schaltete der Apparat sich wieder aus. Er wurde fürs Erste nicht mehr gebraucht.
Jimoh stieg widerwillig aus dem Bett und schlurfte ins Bad. Während er unter der Dusche stand, dachte er an seine Eltern. Häufig drängte er sie, aus ihrer Jugend zu erzählen. Die Welt hatte sich seit dieser Zeit offenbar drastisch gewandelt. Als Jimohs Vater in seinem Alter gewesen war, hatte sich in dessen afrikanischer Heimat gerade einmal fließendes Wasser für jeden Haushalt durchgesetzt. In der Stadt des Jahres 2080 waren dagegen sämtliche Gebäude mit einem eigenen Wasserkreislauf ausgestattet. Das Wasser, das beispielsweise beim Duschen durch den Abfluss rann, wurde im Keller gesammelt und wieder aufbereitet, um dann erneut aus einem Hahn zu strömen.
Jimoh verließ die Dusche. Seit einiger Zeit interessierte er sich stark für die Unterschiede zwischen der heutigen Welt und der Vergangenheit. Seine Cousine Helga wird sich auf etwas gefasst machen können, dachte er. Sie war eine der wenigen Personen, die noch auf dem Land lebten. Schon vor vielen Jahrzehnten hatte in weiten Teilen der Welt eine Verstädterung eingesetzt. Auf der Suche nach Arbeitsplätzen, später auch nach mehr Modernität, hatten immer mehr Menschen ihre Dörfer verlassen, bis vor ungefähr 30 Jahren nur noch die Landwirte übrig geblieben waren. Es hieß, dass dort noch ähnliche Lebensbedingungen herrschten wie vor 50, teilweise sogar 70 Jahren. Jimoh kannte dieses Leben nur aus den Erzählungen seiner Mutter, die selbst vom Land stammte. Helga dagegen war noch nie in der Stadt gewesen. Daher hatten ihre Mütter die Idee gehabt, dass die beiden gleichalten Cousins sich gegenseitig besuchen sollten. Heute würde Helga also den Anfang machen und eine Woche bei Jimoh, seinen Eltern und seinen drei Geschwistern verbringen.
Jimoh begab sich zum Esstisch, wo seine Eltern bereits mit seinen kleinen Brüdern warteten. Soeben fand sich auch seine ältere Schwester in der Küche ein. Man aß Toast mit Kräuterquark. „Um zehn Uhr kommt Helga mit der Chikatetsu an.“, erinnerte Jimohs Mutter ihren Sohn. „Wir gehen alle zusammen hin und holen sie ab.“ Aiki, Jimohs Schwester, meldete sich zu Wort. „Ich kann nicht mit zur U-Bahn. Heute muss ich zu unserem Projekthaus. Ihr wisst doch, dass wir das mit Strelitzien und Gummibäumen bepflanzen wollen.“ Aiki studierte Gebäudefloristik und hatte zusammen mit anderen Studenten schon lange an einem Entwurf für eine ästhetisch bepflanzte Wohnhausfassade gearbeitet. Mutter nickte. „Na gut, aber ihr Jungs kommt mit. Ihr habt diese Woche nur E-School, das könnt ihr auch vorher noch erledigen. Also, Computer raus!“ Seufzend zogen Jimoh und sein Bruder Dan ihre Computer aus der Hosentasche. Annan, der Jüngste, blieb verschont, denn er war noch nicht schulpflichtig. Jimoh öffnete den virtuellen Klassenraum und begann, sich mit Energielehre herumzuschlagen. Nano-Solarzellen, Reibungs- und Schallenergie, Direkte Windkraft… Zum Einschlafen. Jedenfalls in der theoretischen Form, in der diese Technologien in der E-School vermittelt wurden.
Um neun Uhr fünfzig stand die Familie auf dem Luftbusplatz. Ein eiförmiges Flugobjekt rauschte auf sie zu und blieb etwa einen halben Meter vor ihnen in der Luft stehen. Bestimmte würde der Pilot einen besseren Energielehrer abgeben, dachte Jimoh als sie einstiegen. Schließlich macht sein Luftbus sich den Fahrtwind zunutze. Und ich wette, die Fenster sind gespickt mit Solarzellen. Da wären Direkte Windkraft und Sonnenenergie schon mal abgedeckt. Und das Ganze auch noch schön praxisbezogen und anschaulich…

Obwohl die Chikatetsu-Station, an der Helga ankommen würde, am anderen Ende der Metropole lag, landete der Luftbus bereits nach fünf Minuten auf dem dafür vorgesehenen Platz neben den Rolltreppen. Familie Tokori fuhr ins achte Untergeschoss und sah sich um. „Weiß jemand, auf welchem Gleis Helga ankommt?“, fragte Jimohs Vater. „Typisch! Wenn Mama und ich nicht für alles sorgen, tut es keiner!“, beschwerte er sich, als seine drei Söhne allesamt die Köpfe schüttelten. „Aber das ist doch euer Job!“ hielt Annan dagegen. Dan unterstützte ihn sofort. „Haben wir gestern erst in Sozialkunde gelernt. Menschen, die sich für eine Tätigkeit als Vollzeit-Eltern entscheiden, haben die Aufgabe, sich um ihre Kinder zu kümmern. Siehst du Papa, dafür werdet ihr bezahlt. Frag Frau Grey, wenn du mir nicht glaubst!“
Unterdessen hatte Jimoh seinen Computer gezückt und nach dem Chikatetsu-Fahrplan gesucht. „Gleis sechs!“, verkündete er.

An Gleis sechs stand bereits Helga und blickte mit großen Augen auf die Menschenmassen um sie herum. Die halbe Welt schien versammelt. Menschen aus aller Herren Länder liefen durcheinander und unterhielten sich in Sprachen, die Helga noch nie gehört hatte. Und das wollte etwas heißen, kam sie doch selbst aus einer internationalen Familie und hatte außerdem fünf Sprachen in der Schule belegt.
In der Menschenmenge fiel ihr ein kleiner Junge auf, der, irgendetwas rufend, auf sie zustürmte. Plötzlich blieb er stehen, offenbar um auf einen Afrikaner, eine Asiatin und zwei ältere Jungen zu warten, die sich einige Meter hinter ihm suchend umsahen. Anscheinend hatte Helga ihre Familie entdeckt.

Jimoh und seine Familie begrüßten Helga herzlich und führten sie ans Tageslicht. Plötzlich lief das Mädchen nach links und verschwand in der allgegenwärtigen Menschenmenge. Familie Tokori folgte ihr eilig, und fand sie schließlich mit verwirrtem Blick vor einem mit Obstbäumen bewachsenen Gebäude. Auf Jimohs Frage, was sie denn vorgehabt habe, entgegnete sie: „Wir gehen mitten auf der Straße! Ich habe vergessen, dass es hier keine Autos mehr gibt.“ Dan sah sie ungläubig an. „Ihr fahrt doch nicht ernsthaft noch mit diesen uralten Dingern herum? Oma hat erzählt, die gäbe es schon seit vierzig Jahren nicht mehr!“ Helga schien etwas verlegen, als sie erwiderte: „Innerhalb des Dorfes gehen wir immer zu Fuß. Aber wenn wir weiter weg wollen… Auf dem Land gibt es keine Chikatetsu-Verbindung, aber die alten Straßen sind noch vorhanden, auch wenn sie in schlechtem Zustand sind. Wenn wir reisen wollen, fahren wir also mit dem Auto an den Rand der nächsten Stadt und dann mit der Chikatetsu weiter.“ Annan forschte nach: „Die ganz alten? Die, die stinken und die Umwelt verschmutzen?“ Doch Helga schüttelte empört den Kopf. Mit diesen vorsintflutlichen Benzinfahrzeugen fuhr man selbst auf dem Land nicht mehr. „Hältst du uns für vollkommen zurückgeblieben? Nein, wir verwenden nur die vergleichsweise neuen Solarautos und solche, die Wasser tanken können. Von denen hat allerdings noch jeder Haushalt sein Eigenes. Jetzt habe ich aber mal eine Frage: Hier sind die Häuser alle so schön bepflanzt. Kann man wählen, was man an seinem Haus wachsen lassen will?“ Jimohs Vater schüttelte den Kopf. „Zunächst wird bei Hochhäusern zwischen Wohngebäuden und anderen Immobilien, etwa Bürogebäuden oder öffentlichen Institutionen, unterschieden. Wohnhäuser werden mit Blumen und ähnlichem bepflanzt, alles Andere mit Nutzpflanzen. Wenn zum Beispiel ein Wohnhaus gebaut wird, beauftragt der Bauherr ein Team von Gebäudefloristen mit seiner Bepflanzung.“

Sie beschlossen, mit Helga auf einen Stadtbummel zu gehen. Nach eigener Zeit hatten sie die asphaltierten Straßen verlassen und bewegten sich auf gläsernem Untergrund. Allerdings konnte man nicht erkennen, was sich unter den Scheiben befand. „Sind das Tiefhäuser?“, wollte Helga wissen. Jimoh bejahte. „Der Weg besteht hier aus speziellem Glas. Von unten ist es transparent und man kann den Himmel sehen. Aber Menschen auf der Oberfläche können nicht durchschauen, denn die Leute in den Häusern wollen schließlich nicht ausspioniert werden. Und natürlich sind Nano-Solarzellen im Glas integriert. Das ist hier aber in jeder Scheibe so“, erklärte er. Helga verdrehte die Augen. „Danke für die Erklärung, Jimoh. Aber ich lebe nicht auf einem anderen Stern. Nur, weil wir im Dorf noch in Einfamilienhäusern wohnen, stammen wir nicht aus dem vorigen Jahrhundert. Ich kenne diese Solartechnologie. Die gab es auch auf dem Land schon, als unsere Mütter Babys waren“, sagte sie genervt. Jimoh starrte sie entgeistert an. „Du stellst doch andauernd Fragen!“, rief er. „Lass das doch bleiben, wenn du sowieso keine Antwort willst!“
„Antwort schon! Aber nicht immer einen Vortrag! Ich bin nicht blöd! Ich gehe auch zur Schule! Wir wissen, was gerade modern ist, auch wenn es auf dem Dorf oft erst viel später eingeführt wird! Wir haben Taschencomputer! Information ist auch für uns jederzeit verfügbar!“
An diesem Punkt unterbrach ein lautes Piepsen die Diskussion. Alle zückten ihre Taschencomputer. Helga steckte ihren allerdings sofort wieder weg, da er als Einziger keine Töne von sich gab. Jimoh dagegen sah auf sein Display und las: Die Stadträte schlagen einen Ausbau der Lärmkraftwerke am südlichen Stadtrand vor. Wenn Sie Ihre Meinung dazu abgeben wollen, füllen Sie bitte das nachstehende Stimmformular aus. Auszählung der Stimmen in 24 Stunden.
Helga, die Jimoh über die Schulter geschaut hatte, staunte: „Also gewinnt ihr wirklich Energie aus Radau! Papa hat mir davon erzählt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es dafür genug Krach geben kann. Doch damals kannte ich natürlich die Stadt noch nicht.“ Jimoh entgegnete: „Du wirst es nicht glauben: Obwohl wir die Geräusche auffangen wo es nur geht, auf der Straße, im Zoo, in der Schule und so weiter, ist es noch immer nicht laut genug. Direkt neben den Kraftwerken gibt es eine Lärmfabrik, ohne die die Lärmtechnologie wahrscheinlich nicht effektiv genug wäre.“

Inzwischen war es Mittag. Jimohs Großmutter hatte die Familie zum Essen eingeladen und so fuhren sie mit dem Luftbus zu ihrer Wohnung. Dort angekommen öffnete ihnen eine kleine, weißhaarige Frau. Abgesehen von ihrem Aussehen war ihr Alter ihr nicht anzumerken. Sie bewegte sich zügig und schien vor Energie zu sprühen. Sogleich tischte sie ein selbstverständlich vegetarisches Mittagsmahl auf und begann ein Gespräch über ihre Kindheit auf dem Land. Entgegen Helgas Erwartungen pries sie jedoch keineswegs die „gute alte Zeit“, sondern sprach sich äußerst positiv über die Veränderungen, die seit damals vonstattengegangen waren, aus. „Die Menschen sind viel vernünftiger geworden“, behauptete sie. „Allein schon was die Umwelt angeht. Wenn ich daran denke, dass man Abfall früher verbrannt oder irgendwo gelagert hat! Die Recyclingmöglichkeiten waren schrecklich begrenzt, bevor man Müll einfach in seine Moleküle aufspalten konnte. Ach, und von Energie ganz zu schweigen…“ Der wissbegierige Annan drängte sie, mehr zu erzählen. „Was für euch Kinder ganz selbstverständlich ist“, führte sie also aus, „Reibungskraft und Lärmenergie und dergleichen, war als ich klein war noch unvorstellbar. Man war schon unendlich stolz auf die Solarenergie, die im Gegensatz zur Kernkraft natürlich ein Fortschritt war. Die ist ja auch schon sehr lange abgeschafft, wenn man von einer Handvoll Entwicklungsländer absieht.“

Nachdem sie einige Stunden bei Oma verbracht hatten, musste Jimoh zum Musikunterricht. Er spielte Schlagzeug. Der Stadtteil, in dem die Musikschule lag, unterschied sich deutlich von den übrigen Wohnvierteln. Er war lauter und außerdem mit Werbebildschirmen gespickt. Sie sollten das Interesse an Bands, Orchestern, Chören sowie Gesangs- und Instrumentalunterricht jeglicher Art wecken. In jedem Gebäude befanden sich Probenräume oder Konzertsäle. Helga machte große Augen. „Wow! Ihr Stadtmenschen müsst ja unglaublich musikalisch sein!“, staunte sie. Jimoh machte eine unbestimmte Geste. „Na ja, wie man’s nimmt. Die Stadt unterstützt die Musik vor allem, weil sie natürlich der Lärmenergie zuträglich ist. Möglichst jeder soll Musik machen können, und zwar in erster Linie laut. Mit dem Sport ist es das Gleiche. Jeder geht ins Fitnessstudio strampeln, schafft sich einen durchtrainierten Körper und erzeugt zufällig noch Energie. Im Geschichtsunterricht habt ihr doch sicher auch behandelt, wie die Gemeinden und Länder früher darum bemüht waren, so viel Geld wie möglich einzunehmen. Ich weiß nicht, wie es auf dem Land ist, aber für die Stadtverwaltung ist Geld nebensächlich geworden. Stattdessen dreht sich alles um Energie.“

Nach der Schlagzeugstunde war es auch schon Abend. Jimoh und Helga fuhren mit der Chikatetsu zurück nach Hause. Noch immer waren Straßen und U-Bahn überfüllt. Kein Wunder, Tokiohama war schließlich die größte Stadt der Welt. Vor langer Zeit hatte es die Stadt in ihrer jetzigen Form überhaupt nicht gegeben, sondern die beiden einzelnen Städte Tokio und Yokohama, die aber letztendlich zusammengewachsen waren. Helga, die kaum mehr als fünfzig Menschen an einem Ort gewohnt war, war jedenfalls fix und fertig. Erst jetzt fiel Jimoh ein, dass er seine Cousine eigentlich über ihr Leben auf dem Land hatte ausfragen wollen. Stattdessen hatte er einen Tag lang Fremdenführer gespielt. Egal, die beiden würden ja noch einige Zeit miteinander verbringen.
Zuhause angekommen zeigte Jimoh Helga das Gästezimmer und wünschte seiner Familie eine gute Nacht. Auch er war plötzlich müde.

Der Wecker des Jungen schaltete sich erneut ein, als Jimoh sich ins Bett legte. Allerdings nur um die Fensterverdunkelung wieder zu aktivieren und die Zimmertür zu schließen. Als sein Besitzer dann langsam zu schnarchen begann, schaltete sich das Gerät schnell und nur von einem Klicken begleitet wieder aus.

2 Kommentare zu “Grüne Großstadt”

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