Rechtzeitig aufwachen!

Dring! Dring! Dring! Dring! Meine Hand tastet verschlafen nach dem Wecker.

Ein Beitrag von Laura im Rahmen des Schreibwettbewerbs zum 4. Münchner Klimaherbst.

Bumm! Mist. Seufzend öffne ich meine Augen und hebe den Wecker vom Boden auf. Er hat aufgehört zu klingeln. Schlechtes Zeichen. Ein glitzerndes Rädchen liegt auf dem Boden. Noch schlechteres Zeichen.

Theorie I: Das Rädchen gehört zu irgendeinem unwichtigen Gegenstand, aber nicht zum Wecker. Der Wecker funktioniert und ich komme weiter immer pünktlich zur Schule. (Wahrscheinlichkeitsgrad: Unwahrscheinlich, wäre aber besser für mich.) Theorie II: Ich habe meinen Wecker geschrottet, indem ich ihn aus Versehen runtergeschmissen habe. Von nun an werde ich täglich zu spät kommen und von der einzigen Schule in dieser Region geworfen werden. (Wahrscheinlichkeitsgrad: sehr wahrscheinlich).

Ich tippe auf Theorie II und versuche, das Rädchen irgendwie zu befestigen. Klappt nicht. Also lege ich den Wecker auf den Tisch und hoffe herauszufinden, wie ich ihn reparieren kann. Nachdem ich mich angezogen, Zähne geputzt und Algenflakes-mit-Milch-Pellets in mich hereingestopft habe (wobei ich mich fragte, wie echte Milch schmeckt, weil ich ja noch nie welche probiert habe. Es gibt schließlich fast keine Tiere mehr), ziehe ich meinen UVAS (U-V-A-Schutzanzug) an und stelle ihn nach einem Blick durch das UVAS-G-Fenster (U-V-A- Schutz-Glas-Fenster) auf 200sw. Schließlich sieht es heute ziemlich sonnig aus und ich will ja nicht unter der Sonne verbrutzeln.

Zur Grewcell Station sind es nur ca. 2km. 40 min. zu Fuß. Ich warte zehn Minuten auf den SPT ST(Swift-Passengers-Transport-Solar-Three). Jede Menge UVAS’ warten genauso wie ich. Ich bemitleide jene Leute, die (anders als ich) keinen Sitzplatz gefunden haben. Denn der UVAS mit all seinen Teilen (Sauerstoffflasche, Temperaturanlage, UVAS-G vor den Augen …) wiegt ganz schön viel. Das Gefährt kommt. Wenn ich es in drei Worten beschreiben müsste, wären das wohl: flach, weiß, solaranlagenbedeckt. Ich weiß zwar nicht, ob solaranlagenbedeckt wirklich ein Wort ist, aber so muss man sich den SPT ST vorstellen.

An der Central Station steige ich aus. Denn hier ist die Schule von Gebiet XIX. Gesponsert von irgendeinem reichen Typen. Das Gebäude liegt direkt an den Gleisen, also muss ich nicht lange laufen. Vor dem Eingang hat sich bereits eine Schlange gebildet. Ich warte. Und warte. Und warte. Endlich! Ich schiebe die SchoolCard in den Schlitz neben der Tür. Sie öffnet sich. Ich gehe zur nächsten Tür. Schiebe die Karte in den Schlitz. „Stimmenerkennung erforderlich“, zwitschert es aus dem Lautsprecher. „Bitte sagen Sie ihr persönliches Passwort.“ – „Grün“, murmele ich. Meine Lieblingsfarbe. Ich weiß, nicht sehr originell. Mir ist nichts eingefallen. „Bitte sprechen sie lauter.“ – „Grün“, zische ich. Ärgerlich, diese Teile. „Bitte sprechen sie deutlicher.“ – „Grrrüüün“, sage ich zum tausendsten Mal. „Passwort nicht identifiziert. Bitte wiederholen sie es.“ – „Grün“, sage ich halbwegs ruhig und in angemessener Lautstärke. „Klick!“ Die Tür springt auf. Ich hasse diese Spracherkennungsautomaten. Dritte Schleuse. Fingerabdruck. Funktioniert problemlos.

Ich streife den schweren UVAS ab und lege ihn in mein Fach (auch per Karte zu öffnen). Steige die Stufen hoch. Jetzt, wo so wenig Platz ist, baut man eben in die Höhe. Die einzelnen Gebäude sind durch Stahl und Beton miteinander verbunden, Brücken spannen sich über die Gassen. Straßen gibt es nicht.

Ich bin da. In meiner „Kammer“. Ein winziger wabenförmiger Raum. Ich schiebe die Karte in den Computer. Diese Dinger sind nicht nur a) total teuer, sondern b) verbrauchen auch noch Strom, der noch teurer ist. Strom wurde schon 2047 rationiert. Es wurde verboten, Strom mit endlichen Rohstoffen herzustellen und die Regierung ließ mehr Windräder, Solarzellen und Wasserturbinen bauen. Das ging alles glatt, doch es war schon zu spät gewesen. Als dann die Flut kam, wurde jede Mühe zunichte gemacht. Mittlerweile wird für jeden Menschen so viel Strom zur Verfügung gestellt, wie unbedingt nötig ist: zum Aufladen des UVAS. Ansonsten kann man sich eine bestimmte Menge dazukaufen, falls man das Geld dazu hat. Niemand kann es sich leisten, einen Computer zu besitzen. Mal abgesehen von dem Wohltätigkeitstypen, der das alles hier finanziert.

Herzlich Willkommen, Val! steht auf dem Bildschirm. Dann wird mein Plan für heute eingeblendet: Englisch/Literatur (momentan Klassiker), Geschichte (hauptsächlich Umweltkatastrophen), Chinesisch (vor allem Aussprache, grrr!), Geschichtliche Geografie, Spanisch/Portugiesisch. Heutzutage ist die Welt in 4 Teile gegliedert: B.-Anglikanischer Teil (englischsprachig, ehemals Europa, Afrika) A.-Anglikanischer Teil (englischsprachig, ehemals Nordamerika) Hispano-portugiesischer Teil (Spanisch/Portugiesisch, ehemals Südamerika) Asialtaischer Teil (Chinesisch, ehemals Asien) Englisch ist heute ganz gut, ich lese Auszüge aus Peter Pan von James Matthew Barrie. (Das Buch ist über 400 Jahre alt! Hammer!) Dann Geschichte. Oh Wunder! Heute keine Katastrophen! Sondern das alte Ägypten. Lustig, wo es doch schon seit Ewigkeiten unter dem Meer liegt. Ich frage mich, was sie wohl mit den Kunstschätzen gemacht haben. Chinesisch-grässlich wie immer. Irgendwann wird mich das Wort gonggongqiche an den Rand der Verzweiflung bringen. Geschichtliche Geografie. Die Welt vor 300 Jahren. Meine Meinung: Vor der großen Flut von 2062 gab es auf der Erde doppelt so viel Platz. Bevor die Erde in die Bezirke eingeteilt wurde. Die wiederum in Gebiete eingeteilt sind, in denen sich die „Stationen“ der Herstellung befinden. Ich glaube, das muss ich jetzt genauer erklären: In jedem Bezirk wird ein bestimmtes Objekt produziert. Hier, in Bezirk 4 sind es die UVAS’. Die Gebiete sind bloß eine genauere Einteilung. In jedem gibt es eine bestimmte Aufgabe. In Gebiet XIX, wo ich wohne, wird der Stoff, aus dem die UVAS’ bestehen, hergestellt. In Spanisch/Portugiesisch lese ich einen Text, zu dem ich anschließend Fragen beantworte. Dann fällt mir die Sache mit dem Wecker wieder ein. Also suche ich im virtuellen Lexikon nach Aufbau einer mechanischen Uhr mit Weckfunktion. Tataa! Ich versuche mir das Bild so gut wie möglich zu merken und schalte den Computer aus.

Nehme die Karte. Steige Treppen runter. Ziehe den UVAS an. Stelle ein. Schleusen. Zugfahrt. Fußweg. Korn-mix-pellets (Weil keine Topfkuchen-pellets mehr da sind). Dann gehe ich wieder raus und werfe Zeitungen ein. Mein „Job“. Heutzutage hat jede mindestens zwölfjährige einen Job zum Wohle der Gemeinschaft. Die Zeitungen (und sonstige Post) werden per Druckluft nach oben in die Stockwerke gepumpt. Die Wege sind dunkel, weil sie ja alle im Schatten der hohen Häuser liegen. Deren Spitzen scheinen die Wolken zu berühren, sie sind so weit weg. Trotz der wohligen Wärme meines UVAS fröstele ich, zwischen dem endlosen hin und her der grellen Strahlen der Sonne und der Dunkelheit zwischen den Häusern. Die Gassen sind leer, und ich fühle mich, als wäre ich der einzige Mensch auf der Welt.

Gegen 19 Uhr bin ich wieder zu Hause. Während ich auf meine Eltern warte, besehe ich mir meinen Wecker. Baue ihn auseinander. Eine Art Stäbchen landet klirrend auf dem Boden. Ich bücke mich, hebe es auf und stecke es an der hoffentlich richtigen Stelle fest. Dann schraube ich das Rädchen fest. Probeweise stelle ich die Weckzeit auf 19.16 Uhr (es ist 19.16 Uhr). Schon nach wenigen Sekunden werde ich mit einem rasselnden Dring! Belohnt. Na also.

Im Flur höre ich meine Eltern. Ahh! Ich habe vergessen, meinen UVAS anzuschließen. Schnell flitze ich mit dem UVAS (der auf dem Boden lag) zur Ladekapsel, dem einzigen Ort im ganzen Haus, an dem es Strom gibt. Dort baue ich ihn auseinander, hänge ihn auf und schließe Sauerstoffflasche und Temperaturanlage an ihren Plätzen an. Dann flitze ich nach oben. Von den ganzen Treppen bin ich ziemlich aus der Puste. „Wo warst du?“, fragt meine Mutter, als ich oben angekommen bin. Mir fällt keine Ausrede ein, also sage ich die Wahrheit. „Ich … öhm … habe vergessen, meinen UVAS anzuschließen und das habe ich jetzt ganz schnell … äh … nachgeholt.“ – „Du hast WAS vergessen? Wenn du den UVAS nicht schnell genug anschließt, kann das sehr schlecht enden! Ist dir das klar, Fräulein?!“ – „Ja“, piepse ich.

Ich schleiche mich rückwärts in die Küche und stelle dort ein wahlloses Menü aus Tintenfischarm-Pellets und Glasnudel-Pellets zusammen. Meine Eltern kommen herein und erfreuen sich am Abendessen (erfreuen ist natürlich ironisch gemeint). „Das schmeckt … nun … äh … interessant“, quetscht mein Vater zwischen zwei Bissen heraus. Er versucht es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Ich nippe an meinem Orange-Mango-Maracuja-Pfirsich-Mandarinen-Vitamin-Shake. Mama bildet Reihen: Tintenfischarm-Pellet, Glasnudel-Pellet, Tintenfischarm-Pellet … „Wie war’s heute so?“, versuche ich ein Gespräch anzufangen. „Schrecklich. Mr. Coony will die Produktion wieder beschleunigen.“ – „Schon wieder?“, frage ich. Mr. Coony ist der Leiter des Gebiets XIX. „Wieso denn?“, frage ich. „Es soll einen Vulkanausbruch gegeben haben, hier in 4, der einige Hundert noch nicht fertiggestellte UVAS’ unter Lava und Geröll begraben hat. Wir müssen das wieder ungeschehen machen“, antwortet Mama.

Das ist natürlich nicht möglich. Obwohl alle darum kämpfen, obwohl wir so sehr darum kämpfen, wird es nicht wie vorher. Ich frage mich, ob, und wenn ja, wann es zu viel wird. Wann der Schaden an unserer Erde so groß wird, dass wir mit ihm nicht überleben können. Wir müssen überall so viel tun, um auf diesem Planeten zu leben, den unsere Ahnen zerstört haben. Und obwohl alle so viel arbeiten, so scheint doch niemand genügend Geld und Freizeit zu besitzen, um wirklich zu leben: Meine Eltern, die die höchste erlaubte Arbeitszeit in den Werken verbringen. Ich mit meinem Zeitungsaustragen. Die Gesellschaft der SPT ST, die ihre Züge mit Solarzellen bestücken, die niemals ausreichen, um ihren Stromverbrauch zurückzuzahlen. Wir schlafen einen endlosen Schlaf, ohne nach vorne zu sehen, ohne, dass sich etwas ändert. Wie gesagt, niemand kann wirklich leben. Mal abgesehen von dem Typen, der die Schule finanziert. Wahrscheinlich hasse ich ihn deshalb. Denn für uns heute reicht es nur zum Überleben. Und wenn sich das je ändert, dann erleben wir, die Menschen von jetzt, es bestimmt nicht.

Später stelle ich den Wecker auf die gewohnte Uhrzeit. Hoffentlich werde ich rechtzeitig aufwachen. Und damit meine ich nicht nur morgen.

flyer

Flyer: (c) Florian Pick (wonders and sign, grafikdesign münchen)

Kommentieren