„Der Mensch braucht Wartezeiten“

Warum haben wir immer weniger Zeit, obwohl wir doch immer neue Sachen kaufen, die uns helfen sollen, Zeit zu sparen? Wir fragen Deutschlands bekanntesten Zeitforscher Karlheinz A. Geißler was mit uns los ist.

Herr Karlheinz A. Geißler, schön, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben. Was musste dafür hinten anstehen?
Ich plane meine Tage nicht durch, sondern entscheide von Situation zu Situation, was ansteht. Ich kann mir diese intuitive Zeitgestaltung leisten, viele andere sind abhängig von fremdbestimmten Zeitplänen.

Was halten Sie für besser: seine Zeit ganz frei einzuteilen oder ein vorgegebenes Zeitkontingent auszufüllen?
Als Idealbild für eine gelungene Zeitgestaltung stelle ich mir immer einen Schweizer Käse vor. Das heißt, dass feste Strukturen schon wichtig sind, aber es sollte auch viele Zeitlöcher geben, die man ganz individuell füllen kann. Das ist aber leider nicht immer möglich, denn oft sagen uns ja andere, wie wir unsere Zeit einzuteilen zu haben: Der Computer, der Vorgesetzte oder die Schule. Aber heute kann insgesamt jeder viel mehr Zeitentscheidungen treffen als früher, wo noch viel mehr von fremdebestimmten Zeitmustern abhing.

Wo können wir denn den Umgang mit so viel zeitlicher Flexibilität lernen?
In der Schule leider nicht. Da lernt man eher, wie man Zeit relativ systematisch ordnet, also gerade nicht flexibel ist. Die Schüler können ja nicht sagen: Ach, Deutsch ist mir gerade nicht so wichtig, ich konzentrier mich lieber auf Mathe. Es müsste in der Schule viel mehr Flexibilität und Freiraum geben. Da wäre ein gleitender Schulanfang ganz gut. Die Schüler sollten dann kommen, wenn sie lernfähig sind und nicht dann, wenn der Schulgong klingelt.

Wie sieht gutes Zeitmanagement aus?
Zeitmanagement gibt es gar nicht. Wir haben die Zeit nicht im Griff. Die Zeit hat uns im Griff. Ich kann mich darum nur selber gut organisieren. Und da ist es zum einen wichtig zu erkennen, nach welchem biologischen Rhythmus wir Menschen funktionieren. Unsere Leistungsfähigkeit schwankt nämlich regelmäßig über den Tag hinweg. Alle Menschen haben ihre Leistungshöhepunkte morgens zwischen 9 und 12 und nachmittags noch mal zwischen 16 und 18 Uhr. Jeder hat aber natürlich auch eigene Gewohnheiten – Darum muss man sich selber beobachten, was einem wann gut tut. Das Kennenlernen der eigenen Zeitmuster ist das beste sogenannte „Zeitmanagement“.

Was hilft die Erkenntnis, wenn unser Leben doch von Stundenplänen bestimmt ist?
Jede Zeitordnung wird beigebracht. Der Mensch wird ja nicht pünktlich geboren. In der Agrargesellschaft hat man nicht über Zeit geredet; Pünktlichkeit ist eine Erfindung der Industriegesellschaft. Wir machen uns mit diesem starren Uhr-Zeitbegriff das Leben teilweise sehr schwer. Ein Beispiel: Wenn ein Zug Verspätung hat, dann zücken 80 Prozent der Leute ihr Telefon, um ihre Verspätung anzukündigen. Das ist eine völlig verrückte Reizreaktion, so wie ein Hund, dem das Wasser im Mund zusammenläuft, wenn er was zu essen sieht. Mit den anderen Wartenden zu reden, die Wartezeit an sich zu genießen, auf den Gedanken kommt gar keiner! Das zeigt unsere Angst vor der Leere und der Langweile, die in der Wartezeit entstehen könnte.

Weshalb haben so viele Menschen Langeweile, trotz des vielen Stress und der Hektik um sich herum empfinden?
Langeweile ist nichts anderes als die Tatsache, dass man mit sich selber nichts anfangen kann. Je mehr ich auf Ablenkung von außen angewiesen bin, und mich damit abhängig mache von fremdbestimmten Zeitmustern, umso mehr komme ich rein in die Langweile. Dann kann ich alleine meine freie Zeit nicht mehr sinnvoll gestalten. Innere Leere entsteht durch Ablenkung. Und leider ist Ablenkung inzwischen oft Selbstzweck geworden.

Spielen Sie auf das Fernsehen an? Für viele die tägliche Ablenkung vom eigenen Leben.
Natürlich! Das Fernsehen produziert die Langeweile und wirbt damit, sie zu bekämpfen.
Entscheidend ist dabei seine Form, nicht sein Inhalt: Das Fernsehen ist ein Non-Stop-Medium, es macht keine Pause, kennt keine Ende. Es suggeriert uns, dass pausenlos etwas geschieht und immer etwas Neues kommt. Das ist völlig unmenschlich! Jeder Mensch hat ein Ende. Wir sind zu einer Non-Stop-Gesellschaft geworden, in der immer was los sein muss.

Unser Leben ist ja nicht nur pausenlos, sondern vor allem auch immer schneller.
Schnell ist gut, Langsam ist schlecht – so ist unsere Gesellschaft organisiert. Aber der Mensch braucht Langsamkeit und Pausen und Wartezeiten: Familienleben, Beziehungen, Freundschaften: all das kann nicht in Hochgeschwindigkeit funktionieren. Der Bedeutungswandel des Tempo-Begriffs macht unser Problem ganz deutlich: Mozart hatte 23 Tempi, um den Rhythmus seiner Musik zu bestimmen. Heute heißt Tempo einfach Hochgeschwindigkeit, zwischen langsam und schnell kennen wir gar nichts mehr!
Wir haben viel erfunden, damit alles schneller geht: Reißverschluss; Fernsteuerung, Autos. Sogar beim Wein haben wir einen Hochgeschwindigkeitswein entwickelt: den Prosecco. Das paradoxe ist, dass wir trotz dieser Beschleunigungs-Mittel auch nicht mehr Zeit haben! Denn wir füttern die Zeit, die wir gewinnen, mit neuen Beschleunigern! Innehalten, Ruhe genießen und mal nichts tun – das wird nicht gemacht.

Inzwischen gibt es ja auch Leute, die bewusst Zeit verschwenden. Als Gegenmodell zur Hektik.
Ich habe meine Schwierigkeit mit dem Begriff „Zeitverschwendung“. Denn wir können gar nichts machen mit der Zeit: Wir können sie nicht totschlagen, sondern sie schlägt uns tot. Und wir können sie auch nicht sparen oder verschwenden. Zeit ist kein Gegenstand, über den wir verfügen können. Wir geben der Zeit ein Preisschild und verrechnen sie mit Geld. Aber Zeit ist immer da. Zeit als solche hat weder einen kalkulierbaren Wert noch einen Preis.

Infos zur Person:
Karlheinz A. Geißler lehrte bis zu seinem Ruhestand als Professor für Wirtschaftspädagogik an der Bundeswehruniversität München. Er hat zahlreiche Bücher zum Thema Zeit geschrieben („Wart´ mal schnell“, „Es muss in diesem Leben mehr als Eile geben“, „Vom Tempo der Welt – Am Ende der Uhrzeit“) und engagiert sich als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Zeitforschung unter anderem für den Erhalt des arbeitsfreien Sonntags.

Vortrag: Alles hat seine Zeit, nur ich hab keine am 16. September

Foto: Harrison McClary

Der Artikel ist zuerst erschienen im mucs-Magazin. Hier Fan werden. facebook.de/mucsMAGAZIN

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