Faszination Gehen!? Handlungsbedarf für die Münchner Innenstadt

Autor: Rolf Monheim

Im Zuge des Wandels unserer Gesellschaft ändern sich auch die Anforderungen an unser Lebensumfeld. Städte sind wie Unternehmen langfristig am erfolgreichsten, wenn sie sich frühzeitig darauf einstellen oder sogar „an der Spitze der Bewegung“ stehen.

München gelang dies 1972, als es seinen Fußgängerbereich nach den Plänen des Wettbewerbssiegers Bernhard Winkler als „gute Stube“ der Stadt gestaltete, die sich deutlich von dem andernorts noch vorherrschenden, nüchtern-funktionalistischen Design unterschied. Ziel des Ideenwettbewerbs war es damals, eine „optimale Lösung zu finden, die das im Laufe der Jahrhunderte geformte Bild der Straßen und Platzräume in der Wirkung erhöht und belebt, den Menschen das vertraute Münchner Stadtbild so intensiv wie möglich nahe bringt“. Damit sollte der Fußgängerbereich „in jeder Weise Anreiz zum Verweilen und Betrachten bieten“ (Sandmeier 1998:15). Winkler (1998: 5) war es deshalb „wichtig, den städtebaulichen Raum und den architektonisch gebauten Raum, wie er einmal war, wieder sichtbar zu machen.“

Zwar wurde der Fußgängerbereich mehrfach erweitert; der vor gut vierzig Jahren von der Stadtpolitik aufgebrachte Gestaltungswille für den öffentlichen Raum ist aber einem verbissenen Starren auf die vermeintlichen Belange des fließenden und ruhenden Autoverkehrs gewichen, wie Gernot Brauer beklagte. Ein Blick auf die ursprünglichen Planungen zeigt, dass man selbst hinter dem damaligen Bewusstseinsstand hinterherhinkt, geschweige denn, dass man fähig wäre, die linearen Konzepte entsprechend den neuen Anforderungen an öffentliche Räume in die Fläche hinein zu erweitern. Markanteste Beispiele sind die halbherzige Umgestaltung des Tal (hier sollte man sich die aktuell eingerichtete Begegnungszone in der Wiener Mariahilfer Straße zum Vorbild nehmen) und die jahrzehntelange Unfähigkeit, die längst überfällige Umwandlung der Sendlinger Straße bis zum Sendlinger Tor als Fußgängerzone vorzunehmen. Darüber hinaus wäre es aber dringend geboten, die Freiraumqualitäten der
gesamten historischen Innenstadt in Wert zu setzen. Leitbild für einen neuen Anlauf zur Stadtgestaltung müsste die Faszination des Erlebens sein, die der Experience Design Professor Marc Hassenzahl von der Folkwang Hochschule Essen für die Gestaltung von Produkten fordert, wobei er sich u.a. auf den von Joseph Pine und James Gilmore in ihrem Buch „Die Erlebnisökonomie“ beschriebenen Übergang von der Industrie- und Servicewirtschaft zur „Erfahrungswirtschaft“ bezieht, die „Veränderung über Begeisterung und Freude in Gang setzt“. Es ist bezeichnend, dass der German Council of Shopping Centers die soeben erschienene Sonderausgabe seines „Magazin“ dem Thema „Faszination Mensch / Stadt / Shopping“ widmet und dabei ein Interview mit Professor Hassenzahl an den Anfang stellt.

Vor diesem Hintergrund müsste eine kritische Analyse der Münchner Innenstadt und die Entwicklung eines zukunftsfähigen, Begeisterung weckenden Gestaltungskonzeptes erfolgen. Dabei sollte dem „Gehen“ als der natürlichsten Grundlage des Stadterlebens eine strategische Rolle zukommen und sollten dazu u.a. die vielfältigen Anregungen der in München stattfindenden, internationalen WALK21-Konferenz genutzt werden. Der folgende, ausführlicher auf der WALK21 vorgestellte Beitrag beruht auf Erfahrungen, die bei Fallstudien in zahlreichen Innenstädten, u.a. seit 1996 auch mehrfach in München, gemacht wurden, wobei der Städtevergleich wichtige Erkenntnisse „jenseits des Gartenzauns“ ermöglicht.

Erlebnisbetonte Innenstadtbesucher im Spiegel von Passantenbefragungen

Umfassende Befragungen von Innenstadtbesuchern in verschiedenen Städten belegen die Bedeutung erlebnisorientierter Innenstadtbesucher (in München wurden 1996/97 gut 6.200 Besucher befragt, s. Monheim et al. 1998). Ein erster wichtiger Faktor ist die Herkunft. Sie liegt insbesondere samstags sehr häufig jenseits des eigentlichen Versorgungsbereichs der Stadt. In München waren es bereits 1997 39 % (inzwischen ist deren Anteil zweifellos gestiegen), in Leipzig 31 %, in Nürnberg 38 % und in Regensburg 45 %! Da diese Shoppingtouristen durchschnittlich deutlich mehr ausgeben als die in der Stadt und Region Wohnenden, liegt deren Bedeutung für den Handel noch wesentlich höher.

Innerhalb des Haupteinkaufsbereichs bildet zwar Einkaufen den häufigsten Besuchszweck; die meisten Besucher haben aber mindestens einen, oft auch zwei weitere Besuchszwecke, vor allem Freizeittätigkeiten.

Dabei steht in München der Stadtbummel mit Abstand an der Spitze, gefolgt von Gastronomiebesuchen, während in Regensburg noch häufiger eingekehrt wird (samstags in M: 70 % zu 42 %, in R: 67 % zu 78 %). Einkäufer, die nicht auch mindestens eine Freizeittätigkeit angeben, sind äußerst selten (in M werktags 15 %, samstags 11 %, in R 13 % bzw. 4 %); weitaus die meisten kombinieren Einkäufe mit Freizeit (M 63 % bzw. 76 %, R 70 % bzw. 84%). Hier zeigt sich die dringende Notwendigkeit, in der Stadtgestaltung ein dafür geeignetes Umfeld zu bieten!

Dies bestätigt auch die Zahl der Läden, die während des Innenstadtaufenthaltes aufgesucht werden sollen. Während viele Einzelhändler weiterhin nur ihren eigenen Shop sehen, beruht der Erfolg der Innenstadt, auch im zunehmenden Wettbewerb mit dem E-commerce, entscheidend auf dem „Shared Business“ bzw. „Agglomerationseffekt“. Langzeitbeobachtungen in Nürnberg zeigen eine kontinuierliche Zunahme der Zahl aufgesuchter Läden. Insofern liegt der bereits 1997 in München erreichte Anteil von 43%, die samstags in mindestens 6 Läden gehen wollten (Mittelwert 6,6) heute sicher deutlich höher. In Nürnberg wollen samstags 69 % mindestens 5 Läden, darunter 50 % sogar mindestens 7 Läden aufsuchen (Mittelwert 7,0)! Dabei gehen vielfach auch Besucher, die nicht zum Einkaufen gekommen sind, spontan in Läden. Gerade auch für dieses spontane Verhalten bildet die Faszination des mit dem Gehen verbundenen Erlebens der Innenstadt eine wichtige Voraussetzung.

Der großen und wachsenden Zahl aufgesuchter Geschäfte entsprechen erhebliche und ebenfalls zunehmende Distanzen, die innerhalb der Innenstadt zu Fuß zurückgelegt werden. Dies gilt selbst für die angeblich so gehfaulen Autofahrer. Bereits 1974 ergaben eigene Befragungen in drei Münchner Parkhäusern beachtliche Weglängen. Von den Nutzern der Opern-Tiefgarage liefen damals die meisten über 1 km, gut ein Fünftel sogar über 2 km! Neuere Befragungen in Nürnberger Parkhäusern ergaben als durchschnittliche Gehweiten bei dem in der Fußgängerzone gelegenen Citypoint 1.075 m und bei vier weiteren Parkhäusern 1.515 bis 1.645 m. Samstags gingen die Autofahrer 300 m weiter – dann wollten sie ihr Stadterleben maximieren. Die bei Händlern wie Verkehrsplanern vielfach noch anzutreffende Sicht von Gehen als „Aufwand“ entspricht nicht mehr den Einstellungen der meisten Innenstadtbesucher, bei denen „der Weg das Ziel“ ist! Aber dazu muss Gehen eben faszinieren!

Wahrnehmung der Stärken und Schwächen der Innenstadt
Die Besucher wurden am Ende der Interviews ohne Antwortvorgaben danach gefragt, was ihnen an der Innenstadt besonders und was überhaupt nicht gefällt. Ein Vergleich der 1996 in München und Nürnberg erfassten Einschätzungen ermöglicht einige aufschlussreiche Erkenntnisse, die im Prinzipauch heute zutreffen dürften, allerdings möglicherweise mit noch günstigeren Werten für Nürnberg und weniger Begeisterung für München. Erfreulich ist zunächst, dass nur wenige sagten, dass es nichts gibt, was ihnen besonders gut gefällt, aber viele, dass ihnen gar nichts besonders missfällt. Insbesondere bei letzterem schnitt München allerdings deutlich schlechter ab als Nürnberg.

Bei den positiven Merkmalen zeigt sich für München eine relativ ausgeglichene Verteilung auf Handel, Menschen / Flair, Stadtbild und Fußgängerbereich (jeweils von 20 bis 34 % genannt, mit samstags steigenden Werten). In Nürnberg wurde dagegen das Stadtbild doppelt so häufig genannt wie in München, bei sonst meist ähnlichen Anteilen. Noch auffälliger sind die Unterschiede bei den empfundenenMängeln. In München lag die Gesamthäufigkeit genannter Kritikpunkte um 76 % höher als in Nürnberg. Dies lag vor allem an Gedränge, Hektik und Schmutz sowie am Verkehr! Samstags wurden diese von 36 % bzw. 11 % beklagt, gegenüber 10 % bzw. 4 % in Nürnberg. Damit bestätigt sich in der Wahrnehmung der Besucher die Gefahr, dass München an seinem Erfolg erstickt – insbesondere in seiner „Rempelmeile“ mit ihren 2013 samstags 12.000 bzw. 15.500 Passanten je Stunde (nach Jones Lang LaSalle bzw. Engel & Völkers). Umso dringender wären hier Entlastungen durch eine flächenhafte Weiterentwicklung der Fußgängerzone, wie sie Nürnberg konsequent mit der Entwicklung eines komplexen Netzwerkes betrieben hat.

Sendlinger Straße und Hackenviertel – verschenkte Potenziale

In der 2001 vom Referat für Stadtplanung und Bauordnung herausgegebenen Broschüre „Gemeinsam für eine attraktive und urbane Innenstadt“ wurde zur „Wiedergewinnung des öffentlichen Raumes“ gefordert: „Alle öffentlichen Freiräume sollen ein angenehmes Ambiente bieten. Dabei dürfen die öffentlichen Straßen und Plätze nicht zur zweitrangigen Anlieferzone werden, sie müssen ebenso zum Aufenthalt einladen wie private Passagen und Höfe.“ Sechs Jahre später erwähnen die Leitlinien der Stadt München für ein Innenstadtkonzept erneut „stille und ruhige Orte, die zum Verweilen jenseits von Kommerz und dichtem Menschengedränge einladen“ und erklären zum Ziel, „die Nebenlagen aufzuwerten und sowohl für Einzelhandel als auch für Veranstaltungen attraktiver zu machen“. Die Umsetzung wird jedoch immer wieder durch Forderungen insbesondere von Wirtschaftsverbänden nach maximaler Autoerreichbarkeit und Bereitstellung von Parkmöglichkeiten verzögert.

Sendlinger Straße und Hackenviertel sind hierfür bedauerliche Beispiele, ebenso die halbherzige Umgestaltung des Tals. Für die Sendlinger Straße zeigten bereits 1992 und 1993 ausführliche Untersuchungen, die unter meiner Leitung im Rahmen von Lehrveranstaltungen der Universität Bayreuth durchgeführt wurden, dringenden Handlungsbedarf, nicht zuletzt angesichts von stündlich 3.600 bis 4.000 Passanten an einem Werktag, die sich auf den Bürgersteigen drängten. Eine weitere Lehrveranstaltung zum Hackenviertel, die 2006 mit Unterstützung des Bezirksausschusses Altstadt-Lehel erfolgte, bestätigte auch für diesen Bereich beträchtliche Potenziale, aber deutlichen Handlungsbedarf (beide Studien wurden veröffentlicht). 2009 beschloss der Stadtrat, eine „Studie über die räumliche Entwicklung des Hackenviertels und der Sendlinger Straße“ in Auftrag zu geben. Der Auftrag wurde 2010 erteilt.

Erste Ergebnisse wurden im selben Jahr in internen Expertenrunden zur Diskussion gestellt. Nach Abschluss der Studie kündigte das Referat für Stadtplanung und Bauordnung am 9.6.2011 an: „Der Stadtrat wird, voraussichtlich im Herbst 2011, über die Ergebnisse der Studie in Kenntnis gesetzt und über die Anhörung des Bezirksausschusses sowie die Form der Bürgerbeteiligung entscheiden.“ Stattdessen ergab jedoch eine Anfrage anlässlich der Vorbereitung dieses Beitrags, dass „die im Rahmen der Studie Hackenviertel vorgetragenen Empfehlungen noch weiterer Vertiefungen und Prüfungen erfordern, bevor der Stadtrat damit befasst wird. Insbesondere sind dazu noch weitere verkehrliche Untersuchungen erforderlich.“ Daraus folgt, dass sich vor einer abschließenden Stellungnahme der Verwaltung weder Stadtrat noch Bürger an den Überlegungen beteiligen dürfen und dass die vorgeschlagenen Empfehlungen zur Stadtgestaltung in der nur intern vorgestellten Studie offensichtlich den Vertretern der Autoverkehrsbelange problematisch erscheinen. Damit ist zu befürchten, dass die in den Grundsatzempfehlungen aufgestellten Forderungen zur Gestaltung öffentlicher Räume weiterhin auf interne Widerstände stoßen. Die zu Beginn dieses Beitrags dargestellte Notwendigkeit, dass die Weckung einer Faszination des Erlebens, für die sich insbesondere historisch geprägte und noch eine lokale Identität vermittelnde Bereiche wie das Hackenviertel besonders eignen, hat in Münchens Verwaltung und Politik noch keinen hinreichenden Eingang gefunden.

Die Abbildung oben zeigt, wie eine flächenhafte Umgestaltung der öffentlichen Räume für das Gehen als Grundlage des Stadterlebens, aber auch einer durch mehr und zufriedenere Besucher geförderten Nutzungsvielfalt umgesetzt werden könnte. In der Regensburger und Nürnberger Altstadt wurden derartige Konzepte längst umgesetzt.

Die Sendlinger Straße sowie die sie querenden Seitenstraßen sind zu Fußgängerstraßen umzuwandeln, wobei Lieferverkehr und Grundstückszufahrten über geeignete Regelungen sicher zu stellen sind (in den Nebenlagen wären auch „Wohnverkehrsstraßen“ nach Regensburger Muster denkbar). Wertvolle gestalterische Potenziale bieten sich sowohl im Verlauf von Hackenstraße / Brunnenstraße als auch im Umfeld des Sendlinger Tors. Altheimer Eck, Kreuzstraße und Herzog-Wilhelm-Straße sollten als verkehrsberuhigte Bereiche mit Schrittgeschwindigkeit und Mischprinzip niveaugleich gestaltet werden – auch dies ermöglicht ein wesentlich intensiveres Stadterleben. Der verbleibende Erschließungsbogen sollte als verkehrsberuhigter Geschäftsbereich (Zeichen 274 StVO) mit Trennprinzip und 20 km/h Höchstgeschwindigkeit ausgewiesen werden. Ein wesentlicher Teil des Anwohnerparkens könnte in das an Stelle des abzureißenden Parkhauses Färbergraben neu zu errichtende Parkhaus am Sattlerplatz verlagert werden. Bei entsprechendem Bedarf wäre die Möglichkeit einer weiteren, stadtverträglichen
Parkeinrichtung zu prüfen, möglichst in Form eines automatischen Parkhauses. Im Ergebnis würde für die Münchner Innenstadt ein Bereich gewonnen, in dem sich schon bisher einige Geschäftsleute unter dem Markenzeichen „wo München noch münchnerisch ist“ zusammengeschlossen haben. Hier könnten sowohl die Münchner als auch ihre immer zahlreicher werdenden Besucher abseits des Gedränges Stadtidentität erleben und sowohl bezüglich der Stadtgestalt als auch eines vielseitigeren Besatzes kleinerer Läden faszinierende Entdeckungen machen!

Gerade in München, wo nur 15 % und in der Hauptgeschäftslage nur 12 % mit dem Auto kommen, ist es schwer verständlich, wie stark insbesondere die Interessenvertreter des Handels (Citypartner, Einzelhandelsverband, IHK) einseitig für die Belange des Autoverkehrs eintreten und damit sowohl die Umsetzung des erklärten Wunsches der Stadt nach einer Aufwertung der öffentlichen Räume als auch den für einen erfolgreichen Handel wichtigen Trend zum zwanglosen Umherbummeln in einladender Umgebung ausbremsen.

Vielleicht ermöglicht die angestrebte Bewerbung für die Olympischen Winterspiele erneut einen Sprung in die Spitzengruppe faszinierender Innenstädte!? Man sollte berücksichtigen, was der Autor des „Plan for Chicago“ 1909 nach einem verheerenden Stadtbrand forderte: „Make no little plans. They have no magic to stir men’s blood and probably will not themselves be realized.“

Autor: Rolf Monheim

Rolf Monheim ist Professor für Geographie an der Universität Bayreuth. Er war als Forscher an zahlreichen innerstädtischen Münchner Planungsaufgaben beteiligt.

Wenn Sie zu dem Thema mehr erfahren wollen, finden Sie eine Auswahl an Literatur, auf die sich auch dieser Artikel bezieht, unter: www.muenchner-forum.de

 

photo credits Artikelbild: Dieter Schütz  / pixelio.de

Kommentieren