„Wenn man sich damit beschäftigt, stellt sich die Wut von selbst ein“

Am Samstag, den 15. Oktober wollen Menschen in der ganzen Welt auf die Straßen gehen. Sie wollen gegen eine Politik protestieren, die das Wohl der Banken und des Marktes in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt. Kabarettist Ludo Vici, Organisator des Salons zur kleinen Weltherrschaft, ist einer der Aktivisten, die sich spontan entschieden haben, anlässlich des weltweiten Aktionstags „Mehr Demokratie“ eine Veranstaltung in München auf die Beine zu stellen. Viel lief dabei wieder über Facebook. Wir haben ihm ein paar Fragen gestellt.

Ist es die erste Demonstration, die ihr organisiert? Und wer ist das „ihr“ hinter deinem Aufruf?

Im Zuge meiner Recherchen für unser Kabarettprogramm stieß ich auf den Aufruf der spanischen Bürgerrechtsbewegung „Democracia Real ya“ für den 15.Oktober. Meine erste Reaktion war: Fantastisch, auf der ganzen Welt wird es zu Kundgebungen kommen, überall, auch in Europa, auch in Deutschland…….aber bestimmt mal wieder nicht in München. Also machte ich mich auf die Suche und umgehend fand sich eine Facebook-Gruppe „Echte Demokratie Jetzt – München“. Man hat sich schnell kurz geschlossen, ein erstes Treffen organisiert und los gings.
Wer wir alle denn sind, wird sich erst vor Ort herausstellen. Und ihr seid herzlich eingeladen, euch dort ein Bild von uns zu machen. Für mich ist es die erste Demo dieser Art. Ich habe zwar Theaterveranstaltungen im öffentlichen Raum und Konzerte, jeweils mit politischem Hintergrund organisiert, aber eine Veranstaltung dieser Art ist für mich neu.

Aber seid es gerade ihr, die diese Münchner Beteiligung organisieren? Was treibt euch an?

Ich denke uns zeichnet nicht eine besondere Eigenschaft aus. Wir sind zu Organisatoren dieser Demo geworden, weil wir es einfach angepackt haben. Wir wollten nicht, das München außen vor steht und haben über das Netz das Angebot gemacht die Idee zu unterstützen und so haben wir uns zusammengefunden.


Vom Tahir-Platz bis in die Wall Street platzt den Bürgern der Kragen. Worüber sollen die Münchner wütend sein, dass sie ihre Freizeitgestaltung über den Haufen werfen?

Die Demonstrationen rund um den Globus haben verschiedene Hintergründe. Das Aufbegehren der Menschen im Rahmen des arabischen Frühlings war der Aufstand gegen diktatorische Regierungen, die das eigene Volk gewaltsam unterdrückt haben. In diesen Staaten waren die Bürger weit von demokratischen Strukturen entfernt und stehen nun vor der großen Aufgabe diese Stück für Stück zu entwickeln.

In den USA wehren sich die Menschen gegen eine Politik, die im Rahmen einer demokratischen Struktur Macht-, Finanz- und Meinungsmonopole herausgebildet hat, die eine massive Ungerechtigkeit bezüglich Chancen- und Einkommensgleichheit zu verantworten hat. Für diese Menschen stellt sich die Frage inwieweit ihr demokratisches System tatsächlich eine Volksvertretung ist, die im Sinne des Gemeinwohls arbeitet, oder ob sich nicht hinter einem demokratischen Anschein längst Strukturen manifestiert haben, die lediglich die Interessen einer Minderheit verfolgen.

Diese Frage eint sie mit der europäischen Bewegung. Und mehr und mehr beantwortet sich diese Frage beiderseits des Atlantiks mit Ja. Ich denke die Aufforderung an die Münchner Bürger, sich mit dem Zustand unseres Staatssystems und den darin wirkenden Machtgefügen auseinander zu setzen, stellt keinen so massiven Eingriff in ihre Freizeitgestaltung dar, zumal sie in ihrer Nicht-Freizeit in der Mehrheit ein Einkommen erwirtschaften, von dem sie Anteile an den Staat abgeben, verbunden mit dem Auftrag diese in Rahmen einer Verfassung für das Allgemeinwohl einzusetzen. Hat man einmal dem inneren Impuls nachgegeben sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, stellt sich die Wut von selbst ein.

Sind die Menschen in München vielleicht zu satt für echten Protest?

München hat ein leicht geschöntes Bild von sich. Die Stadt sonnt sich gern in dem Vergleich zu Städten wie Berlin und anderen, in denen die sozialen Spannungen größer sind. Doch das täuscht. Längst nicht alle Menschen hier sind satt, eher weit davon entfernt zu satt zu sein – nicht alle haben die ihnen zustehenden Bildungschancen, die Möglichkeit durch ihre Arbeit ihren Lebensunterhalt zu finanzieren oder schlicht eine bezahlbare Wohnung zu finden. Vielleicht gibt es hier eine Reihe von Menschen, die zu satt sind, aber das ist bestimmt nicht die Mehrheit.

Und was fordert man jetzt am 15. Oktober genau? Mehr Demokratie? Gut. Aber was bedeutet das?

Um ein Schlagwort zu gebrauchen: Mehr Demokratie ist das genau Gegenteil von alternativlos. Es ist der Entschluss dem schleichenden, in Teilen sogar offensichtlichem Prozess der Entmündigung der Bürger entgegen zu treten.

Essentielle Fragen des Gemeinwesens werden zunehmend von Organisationen getroffen, die jeder demokratischen Legitimierung entbehren. Mit der hemmungslosen Deregulierung des Finanzwesens wurden Mechanismen geschaffen, die lediglich sich selbst dienen, deren Entscheidungen aber auf Kosten der Allgemeinheit gehen. Unter dem eigens geschaffenen Druck abstrakter Märkte, eines rücksichtslosen ökonomischen Pragmatismus wird der Mensch mitleidlos auf seine Funktion als wirtschaftliches Objekt reduziert. Seine Würde, sein Recht auf Achtung und Respekt wird durch die börsennotierte normative Kraft des Faktischen ausgehebelt, seine Ideale, seine Kultur, seine sozialen Bedürfnisse und seine Kreativität unter das Joch der monetären Bilanzierung geworfen. Die Forderung nach mehr Demokratie ist der ausformulierte Wille diese Umklammerung zu sprengen.

Was hältst du von dem Erfolg der Piraten-Partei?

Der Erfolg der Piraten ist für mich mehr als nur ein Hoffnungsschimmer, denn er geht über eine lediglich nette Irritation der etablierten Parteien hinaus. Er straft alle, die sich in die Resignation zurückgezogen haben lügen. Er zeigt, dass es möglich ist, die arrogante Selbstsicherheit der Politikverkrustung und ihrer postenschachernden Krümmel erfolgreich herauszufordern. Zudem vertreten sie ein Thema, das für den angestrebten Prozess der Re-Demokratisierung von substantieller Bedeutung ist.

Nämliche die Frage nach Informationsfreiheit und den Widerstand gegen Zensur und Überwachung. Wie ernst es die aktuelle Regierung gerade mit letzterem nimmt, konnten wir alle an der Offenlegung des Bundestrojaners erfahren. Das durchgesetzte und kontrollierte Verbot anderer Leute Rechner zu durchforsten, sie als Wanze zu missbrauchen, sowie mit fremden Daten zu verschmutzen, könnte übrigens durchaus das Opfer geringer Anteile von Freizeitaktivität rechtfertigen.

Mal ehrlich: Wir haben Blogs, Facebook und Twitter – wozu soll man eigentlich noch auf die Straße gehen? Viele sehen Demos wohl eher als Ritual für Revolutions-Nostalgiker.

Mal ehrlich: Wir haben doch so schöne, hübsche, animierte Emoticons, wozu also noch einen anderen Menschen umarmen oder küssen. Was ich damit sagen will ist: Es ist doch ein fundamentaler Unterschied ob ich einem vorkonfigurierten Account mit einem Klick meine Unterstützung ausdrücke, oder ob ich mich mit einem Menschen von Angesicht zu Angesicht in eine leidenschaftliche Diskussion stürze.

Die Tipp-und-Klick-Revolte läßt doch eines missen, was für das Wachsen einer gesellschaftlichen Bewegung unabdingbar ist, nämlich dass sie auch emotional geladen ist, und damit verbunden das Wissen, dass die Träger dieser Bewegung Menschen sind und keine vernetzten digitalen Objekte. Das Ereignis, das Erlebnis einer gemeinsamen Demonstration des eigenen Willens läßt sich schwerlich durch die Kommentarfunktion eines Blogs ersetzen. Für mich war es eine bewegende emotionale Erfahrung als sich vor meinen Augen die Facebookgruppe aus einer Erscheinung auf meinem Bildschirm heraus in eine fröhliche Runde in einer Kneipe verwandelte und ich echte Menschen vor mir hatte. Zudem ist eine bunte, laute und lebendige Versammlung von Menschen ein deutlich anderes Bild mit einer deutlich anderen Wirkung, als die Ziffernfolge, die die Anzahl der Unterzeichner einer Petition definiert. Das digitale Second-Life mag alsbald in dreidimensionale Darstellungen vordringen, ich bleibe ganz nostalgisch beim Küssen.

Im TAZ-Artikel „Empörte kapern Alex“ vom 24. August steht, dass ihr noch nicht wisst, was ihr überhaupt dem heutigen System entgegensetzen wollt mit dem Zitat „So weit sind wir noch nicht und da lassen wir uns auch nicht unter Druck setzen“. Warum geht man auf die Straße und demonstriert ohne ein klares Ziel/einen klaren Plan zu haben?

Man kann einem Prozess schwerlich vorwerfen, dass er ein Prozess ist und kein abgeschlossenes Ergebnis. Dieser Abwertung vermag ich nicht zu folgen. Ein Aufbruch ist das Angebot diesem zu folgen, sich diesem mit dem eigenen Wissen, den eigenen Vorstellungen, der eigenen Phantasie anzuschließen. Außerdem gibt es ein klares Ziel, nämlich sich aus der Entmündigung zu befreien und das bedeutet eben nicht sich der nächsten Konstruktion zu unterwerfen sondern sie Kraft eigener Ideen mit zu gestalten. Es gibt eine ganze Reihe unterschiedlicher Herausforderungen zu bewältigen, in sozialer, kultureller, ökonomischer und ökologischer Hinsicht und es ist ein vermeidbarer Fehler die Option auf die bestmöglichen Antworten jetzt schon durch den nächsten Königsweg zu beschneiden.

Wie soll es nach dem 15.10. weiter gehen?

Meine Wunschvorstellung ist, dass sich aus diesem Impuls heraus eine lebendige Bewegung entwickelt, die sich neue und überraschende Denk- und Vorstellungsräume erobert, in denen konkrete Lösungsansätze entwickelt werden können, als Vorraussetzung für eine Politik, die sich in den Dienst der Menschen stellt. Eine der größten Fähigkeiten des Menschen besteht darin sich vorstellen zu können, dass es einen besseren Weg gibt. Und wenn es gelingt allein dieses Vorstellungsvermögen gegen den bedauernswerten, einengenden Pragmatismus zu kultivieren, ist schon einiges erreicht. Dazu gehört zum Beispiel die Erkenntnis, dass unser kreditbasiertes Geld und Wirtschaftssystem kein Naturereignis ist dem wir ohnmächtig gegenüber stehen, sondern eine vom Menschen geschaffene Konstruktion, die sich auch vom Menschen wieder abschaffen läßt. Im übrigen möchte ich mich durch den gern gemachten Vorwurf der Naivität nicht irritieren lassen, denn nicht selten hat sich die Naivität als eine originelle Brücke hin zu einem erstaunlichen Ergebnis bewiesen.

Und um abschließend der Romantik noch eines drauf zu setzen, zitiere ich hier ein Rilke-Gedicht, das ich sehr mag und das ich auch oft in meinen Bühnenprogrammen verwende und über das es sich nachzudenken lohnt (lassen Sie sich bitte nicht durch den Begriff des „göttlichen“ abschrecken. Es ist hier in meinem Verständnis kaum von Religion, sondern viel mehr von der Kraft des Lebendigen und seiner Fähigkeit zu staunen die Rede)

Gib deinem Herzen ein Zeichen,
dass die Winde sich drehn.
Hoffnung ist ohne gleichen
wenn sie die Göttlichen sehn.
Richte dich auf und verharre
still in dem großen Bezug;
leise löst sich das Starre,
milde schwindet der Bug.
Risse entstehn im Verhängnis
das du lange bewohnt,
und in das dichte Gefängnis
flößt sich ein fühlender Mond.

Echte Demokratie jetzt! München
Samstag, 15. Oktober · 11:00 – 17:00
Am STACHUS

2 Kommentare zu “„Wenn man sich damit beschäftigt, stellt sich die Wut von selbst ein“”

  1. Frank sagt:

    Die Isländer haben die richtige Einstellung … http://www.youtube.com/watch?v=6kLVprkLgKk

  2. Gerd P. Werner sagt:

    Was ist denn eigentlich die Krise?
    Große Wahrheiten sind einfach
    Bei den Demonstranten von Kairo bis zu denen in Manhattan herrscht überall
    dumpfer Groll, Wut, berechtigter Zorn über die realen und bedrohlichen
    Auswirkungen des weltweiten Systems „Finanzwirtschaft“. Aber leider wird
    bisher nur die Bekämpfung dieser Auswirkungen diskutiert. Was fehlt, ist eine
    klare Analyse der Ursachen, und die muss rational sein, für jeden verständlich,
    keine ideologische Dunstwolke, kein Streit zwischen einander widersprechenden
    Geldtheoretikern. Ein klarer Blick auf die vorhandenen Tatsachen muss genügen.

    Beim Schwarzen Freitag 1929 verquickten sich die beiden alten Problemfelder
    der westlichen Zivilisation: der Handel mit Geld und der Handel mit Grundstücken,
    oder die Finanzwirtschaft und die Grundstückshypotheken. Kirche und Islam
    hatten die Finanzwirtschaft sehr frühzeitig als Unheil bringend erkannt und
    verboten, in der damals verständlichen Form des Zinsverbots. Christen und
    Moslems unterliefen dies Verbot. Die Finanzwirtschaft ist heute nicht ein
    kleiner Zweig der Wirtschaft, sondern sie ist vielhundertfach größer als die
    Realwirtschaft. Jedem Zahlvorgang in der Realwirtschaft steht ein Produkt oder
    eine Dienstleistung gegenüber, in der Finanzwirtschaft nicht, es ist reines
    Zocken, Casinokapitalismus, ohne Nutzen für die Gesellschaft – aber 1929 wie
    auch diesmal vor drei Jahren platzten in den USA gigantische
    Spekulationsblasen aus der Verquickung von Spekulation mit Geld und mit
    Grundstücken, der Steuerzahler musste mit unvorstellbar großen Summen
    Pleite-Banken sanieren. Trotzdem ist die Krise nicht vorbei, ist noch nicht
    einmal auf dem Höhepunkt.

    Geld ist keine Handelsware; ist nur Zahlungsmittel, Gegenwert für Güter, die
    einst ohne Geld-Anwendung nur per Tauschhandel ihren Weg fanden.

    Grundstücke sind keine Handelsware, noch kein Grundstück wurde jemals
    hergestellt. Grundstücke gehören in den Bereich des Rechtlichen, nicht des
    Wirtschaftlichen.

    Jeder Neu-Ankömmling auf der Erde stellt fest, dass die Elemente Feuer Wasser
    Erde Luft für jeden Menschen vorhanden und notwendig sind. Die Atemluft
    steht jedem unangefochten zu – aber Grund und Boden ist bereits verteilt, jeder
    Quadratmeter steht im Grundbuch eingetragen mit einem Eigentümer, der den
    höchsten Schutz des Grundgesetzes genießt. Das verletzt die Würde jedes neuen
    Erdenbürgers.

    Unser Umgang mit Grund und Boden ist aber nicht nur ein Verstoß gegen das
    Grundgesetz, er ist auch Ursache für regelmäßig wiederholte Katastrophen der
    Wirtschaft. Fehlende Einsicht in diese Zusammenhänge schafft immer wieder
    neue Katastrophen, und die sind bei jeder Wiederholung weit größer als die
    vorhergehende war.

    In einer wohnungspolitischen Debatte zur Neuen Heimat im Bundestag am
    14.3.1986 habe ich ganz vorsichtig formuliert: „Wohnen ist ein Grundbedürfnis,
    das aus unserer Sicht eher als Grundrecht gesehen und auch als Grundrecht
    organisiert werden muss und das daher nicht so wie andere Konsumbedürfnisse
    einfach dem so genannten Markt überlassen werden kann.“ Ich erntete für diesen
    Gedanken Ablehnung bei anderen Mitgliedern meines Bundestags-Ausschusses
    für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, und auch meine lieben Grünen
    interessierte dies Thema nicht. (Nachlesbar auf Bundestagsseiten im Internet:
    http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/10/10205.pdf Seite 15745 unten rechts)

    Wie groß war die Katastrophe in der Folge des Schwarzen Freitag 1929?
    Bankenpleiten, Firmenpleiten, Vertrauensverlust in Banken und Politik,
    Arbeitslosigkeit, Inflation, Zulauf zu politischen Extremisten, Deutschland
    wurde von den Nazis geschluckt, die anschließend einen Weltkrieg mit 80
    Millionen Toten verursachten, die bisher größte Menschheitskatastrophe.

    Wie groß werden die Folgen der jetzigen Katastrophe sein? Staatspleiten nur in
    Griechenland, Irland, Italien, Portugal und Spanien, oder steigern sich die seit
    Jahren allwöchentlich erscheinenden Katastrophenmeldungen noch viel weiter?

    Die Menschen auf dieser Erde, welche nicht unmittelbar zum Bereich der
    westlichen Zivilisation gehören, also nicht in Europa oder englischsprachigen
    Ländern (zunehmend auch die im Westen unter der Armutsgrenze Lebenden),
    die sehen im westlichen Lebensstil und im westlichen Bankwesen die
    Ursache für die Wirtschaftskatastrophe, und leider kann der Westen diese
    Anschuldigungen nicht entkräften. Entsteht da nicht zwangsläufig eine Allianz
    gegen „den Westen“? Wird insbesondere der Islam die wachsende Wut auf
    diesen Westen im Zaum halten können oder wollen? Sind heutige islamistische
    Terroristen nur erste Symptome einer drohenden gewaltigen Konfrontation,
    größer als der zweite Weltkrieg?

    Zahlen im neuen Unicef-Jahresbericht 2011 belegen, dass 90 % der Jugend auf
    unserer Erde sich in ähnlicher Lage befinden wie die jungen Ägypter vor ihrem
    Aufruhr: kaum Chancen für Teilhabe an Bildung, Arbeit, politischer
    Mitwirkung. Das Aufbegehren dieser Jugend der Welt wird mit Sicherheit die
    treibende politische Kraft der nächsten Jahre und Jahrzehnte sein. Die restlichen
    zehn Prozent – also unsere Jugend im „Westen“ – haben die hohe
    Verantwortung, die vom westlichen Lebensstil und von der westlichen
    Finanzwirtschaft gelegten Ursachen der jetzigen und künftiger
    Weltwirtschaftskrisen rasch zu beseitigen, bevor der Zorn der Weltjugend sich
    gegen uns richtet. Viel Zeit bleibt da nicht!

    Sicher ist erhebliche politische Kreativität gefragt, um vom jetzigen Zustand des
    Handels und des Spekulierens mit Grundstücken zum gewünschten Zustand der
    Organisation von Grund und Boden als Grundrecht zu kommen. Aber zum einen
    gab es schon und gibt es noch heute andere Grundeigentumsverhältnisse, siehe
    Allmende bei Wikipedia, zum anderen kann man sich zur vorsichtigen
    Umwandlung des Grundeigentums in grundrechtsartige Formen des Umgangs
    Anleihen vorstellen an den rechtlichen Regeln des künstlerischen Urheberrechts,
    wo nach 6 oder 7 Jahrzehnten die Erben alles Recht an Kunstwerken freigeben
    müssen für alle.

    Auch zu einem anderen Umgang mit Geld müssen wir kommen. Nicht schlecht ist das
    Beispiel islamischer Banken, bei denen man nicht Kredit gegen Zinsen
    bekommt, sondern Beteiligungen, das Risiko geht also anteilig auch auf die
    Bank über!

    Wichtig ist, zu erkennen, dass gerade die Verknüpfung von Handel mit Geld und
    Handel mit Grund und Boden immer wieder wirtschaftliche Katastrophen
    hervorbringen muss! Das wird man nur erkennen können, wenn man die Krisen
    von 1929 und heute in ihrer gleichartigen Struktur und Folgerichtigkeit sieht,
    und indem man die angeblichen Experten als befangene Insider mit einer
    gewissen Betriebsblindheit einstuft.

    Die auf Geld und Grundstücken errichteten Finanz-„Gebäude“ – 1929 wie auch
    jetzt – stellen auf Sand gebaute Häuser dar; sie müssen zwangsläufig
    zusammenbrechen, da ihre Grundlagen buchstäblich Lügen sind: es sind die
    Lügen, Geld und Grundstücke seien normale Handelswaren – was sie eben nicht
    sind! Die Redewendung „auf Sand gebaut“, oder gleichartig „unrecht Gut
    gedeihet nicht“ – diese umgangssprachlich recht bekannten Formulierungen
    sagen mehr aus über die Logik unserer Finanzkrisen als die Experten-Gutachten.
    Und die hilflosen Forderungen nach mehr staatlicher Bankenaufsicht und
    Begrenzung der Bonus-Zahlungen sind für die Katz, treffen gar nicht das
    Thema.

    Brauchen wir eine Finanzwirtschaft? Ja, sicher! Und wofür? Zum Beispiel für
    Sparmöglichkeiten zur Alterssicherung und andere nötige Versicherungen,
    und Kredite für nötige Investitionen, gesetzliche Versicherungen für
    Renten und Krankheit und Arbeitslosigkeit, und noch einige andere
    nötige Dinge. Eine solche Finanzwirtschaft, die auf dem realen Bedarf beruht,
    die hätte ein Finanz-Volumen in der Größe eines Bruchteils der Realwirtschaft.
    Stattdessen ist die Finanzwirtschaft heute vielhundertfach größer als die
    Realwirtschaft. Und warum? Weil wir alle uns von den daran interessierten Menschen
    haben weismachen lassen, wir bräuchten ein gigantisches Wettbüro, genannt
    Finanzwirtschaft. Die Geldmenge dieses Wettbüros ist bereits zehnmal so groß
    wie das gesamte Bruttosozialprodukt der Erde. Und wir alle tun immer noch so, als
    wäre das nur eine Spielwiese für Reiche, in Wahrheit produziert es ständig kleinere
    und riesige Finanzkrisen, die sich fast sofort direkt auf die Realwirtschaft auswirken.

    Gewinne sind längst entnommen, Nutznießer bleiben anonym, sind nicht auffindbar,
    wenn die Steuerzahler die Verluste ausgleichen müssen. Die Experten durchschauen
    das immer noch nicht, aber die Bürger beginnen allmählich mit dem Durchblick,
    Proteste von Ägypten, Madrid, Israel, New York usw beruhen oft noch nicht
    auf gründlicher Analyse, eher auf Ahnung und Gespür, aber das politische
    Bewußtsein wächst und wächst. Das alles kann man natürlich auch als den
    ganz normalen Kapitalismus bezeichnen, aber das bringt jetzt nicht weiter.

    Bei den heutigen Strukturen in der westlichen Welt zahlen bisher immer die
    Steuerzahler, wie schon gehabt, bei Zocker-Banken-Pleiten in den plötzlichen
    und angeblich völlig unvorhersehbaren Finanzkrisen, bei Atommüll-
    Endlagerung, bei staatlichen Mietzuschüssen wegen überhöhter Mieten
    („Bodenrente“ durch die Steuerzahler!). Damit das nicht so bleibt, müssen neue
    Gedanken in die Köpfe – solche, wie die hier dargestellten und ähnliche, etwa
    Volksabstimmungen nach dem Konzept von „Mehr Demokratie e.V.“ und mehr
    Brüderlichkeit in reichen Industrieländern durch bedingungsloses
    Grundeinkommen nach dem Konzept von Götz Werner – beides leicht
    auffindbar im Internet und bei Facebook.

    Gerd P. Werner, Wenningstedt-Braderup auf Sylt
    (Mitglied des Deutschen Bundestags 1985-1987 in der ersten Fraktion der GRÜNEN)

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