Vom Baum in den Mund

Der Mundräuber hat es nicht auf die Birnen in Nachbars Garten abgesehen, sondern auf Früchte, die im öffentlichen Raum wachsen. Eine Initiative aus Berlin organisiert die Ernte für jedermann – per Internet und deutschlandweit.

An diesem Tag ist die Ausbeute spärlich. Zwar stehen auf der grünen Insel inmitten des tosenden Münchner Berufsverkehrs drei Apfelbäume und ein Kirschbaum, aber nur noch drei gelbe schrumpelige Äpfel hängen in einer Baumkrone. „Das wird nix“, sagt Kai Gildhorn, der außerdem mit Kennerblick konstatiert, dass dieser Baum dringend geschnitten werden muss. Der Berliner kennt sich aus. Er ist einer der Gründer von Mundraub – einer Online-Plattform für Obstallmende, auf der jeder überall in ganz Deutschland öffentlich zugängliche Bäume und Sträucher eintragen und so mitteilen kann, wo Obst, Beeren oder Nüsse selbst und umsonst zu ernten sind. Auch die drei Apfelbäume zwischen Auen- und Wittelsbacherstraße sind dort gelistet.

Mundraub hypt
Es gibt viele Gegenden in Deutschland, wo es sich als Mundräuber gut leben lässt. In Mecklenburg-Vorpommern, wo es noch alte Obstbaum-Alleen gibt oder in der Pfalz mit den Wäldern aus Esskastanien, die hohe Herren einst als Zubrot fürs Volk pflanzen ließ, in Berlin oder auch in Brandenburg.
Bei einer Tour durch diesen inzwischen weitgehend menschenleeren Landstrich vor zwei Jahren sind Kai Gildhorn und seine Partnerin Katharina auch auf den Geschmack gekommen: alte Obstbäume und niemand weit und breit, der sich um diese Früchte der Natur gekümmert hätte. Die Idee zu Mundraub war geboren. Zurück in Berlin kreierten sie eine Website auf der jeder in eine Google-Earth-Karte Tags für Obstbäume, Sträucher und Kräuter im gesamten Bundesgebiet eintragen kann. Inzwischen findet man auf der Site fast überall ausgewiesene Standorte zum Mundraub von Äpfeln, Birnen und Marillen, Beeren, Nüssen oder Kräutern. „Das Ding hypt“, sagt Gildhorn. Über zwei Millionen Zugriffe kann die Seite unter www.mundraub.org inzwischen verzeichnen. Noch aktiver sind die Mundräuber auf Facebook. Sie verabreden sich gemeinsamen Mundraub-Streifzügen, tauschen Rezepte aus und posten Tipps, wie man das Obst am besten einkochen oder einwecken kann.

Ein Gefühl von Unabhängigkeit
Der Mehrheit indes ist Vorratshaltung fremd geworden. Man ist es gewohnt, alle möglichen Nahrungsmittel immer und jederzeit kaufen zu können. Aber viele Menschen haben zunehmend den Eindruck dem undurchsichtigen System der Lebensmittelindustrie ausgeliefert zu sein. „Diese Abhängigkeit macht Angst“, glaubt Gildhorn. Mundräuber hingegen, die mit einem Korb voller Kirschen, einer Schachtel Himbeeren oder einem Bund frischem Thymian von ihren Streifzügen zurückkommen, hätten das Gefühl, dass sie sich auch in einer Großstadt – zumindest in Teilen – selbst ernähren könnten. Und durch die Eigeninitiative gewinnt ein Nahrungsmittel an Wert. Ein selbst geernteter Apfel wird eben nicht einfach in den Müll geworfen, nur weil er ein paar Flecken hat oder mehlig ist.

In dem „Mundräuber-Handbuch“, das demnächst erscheint, erklärt das Mundraub-Team unter anderem auch, was man aus Obst alles machen kann: Saft, Most, Marmelade oder Mus. Abgesehen davon, dass die Verwertung der Lebensmittel Spaß macht, setzt nach den Beobachtungen von Gildhorn bei den meisten auch ein Umdenken ein. „Die Wertschöpfungskette wird hinterfragt“, weiß der 39-Jährige. Mundraub ist in gewisser Weise eben auch eine Lebenseinstellung, von der allerdings niemand leben kann. „Die Sache ist ziemlich prekär“, sagt Gildhorn. Denn der Website liegt kein Geschäftsmodell zugrunde. Das Team verdient nicht, aber der Betrieb Onlineplattform kostet im Gegensatz zum eigentlich Mundraub Geld.
Mundraub.org muss und soll sich deshalb weiterentwickeln. Schon gibt es das erste Offline-Projekt der Internetplattform. Eine alte Obstbaumallee im Hasetal bei Osnabrück soll durch Pflegemaßnahmen so reanimiert werden, dass sie wieder Früchte trägt und der dortigen Kulturlandschaft erhalten bleibt. Finanziert wird das ganze aus einem Fond. Die Mundräuber stehen schließlich auch im Dienst der Öffentlichkeit.

Raub in der rechtlichen Grauzone
Dennoch sind Konflikte mit dem Gesetzt nicht ausgeschlossen. Wer auf Nummer sicher gehen will, kann sich vorher informieren, ob sich der Mundraub im legalen Rahmen stattfindet. Es empfiehlt sich bei der Verwaltung von öffentlichen Grünflächen nachzufragen. Die Erfahrung zeigt: In der Regel hat niemand was gegen Mundraub von öffentlichem Obst einzuwenden, obwohl die wenigstens Obstbäume oder Sträucher im eigentlichen Sinne herrenlos sind. „Bislang gab es meines Wissens noch nie Ärger“, berichtet Gildhorn. Denn bevor die Früchte ungenutzt bleiben und am Boden vergammeln, ist eine produktive Verwertung der Früchte allemal die bessere Alternative. Da herrscht Konsens. Definitiv verboten ist es hingegen, von Bäumen zu ernten, die innerhalb eines eingezäunten Privatgrundstücks stehen. Nur was von deren Ästen auf öffentlichen Grund fällt, gehört der Allgemeinheit. Allerdings freut sich auch mancher Bauer oder Gartenbesitzer, wenn jemand hilft, die Obstbäume von ihrer Last zu befreien. Man sollte den Mundraub nur vorher höflich ankündigen.

Elisa Holz

Kommentieren