Wohin führt der Weg?



Wissenschaftliche und technische Aspekte einer sicheren Energieversorgung aus der Sicht Christlicher Sozialethik

1. Risikomündigkeit angesichts komplexer Wechselwirkungen

Aufgrund des „Überschuss(es) der kausalen Wirkungsgewalt über das Vorwissen“ erzeugt Kernenergie nach Hans Jonas ein strukturell neues Verantwortungsproblem. Angesichts komplexer Szenarien lässt sich Verantwortung nicht hinreichend durch das versicherungs-technische Prinzip der Multiplikation von Wahrscheinlichkeiten und Schadensausmaß bestimmen. Gängige Modelle von Zurechnung und Prognosen werden durch die kontextabhängigen Wechselwirkungen zwischen Technik und ihrer gesellschaftlichen Einbettung radikal verunsichert. Risikomündigkeit gewinnt unter den Bedingungen moderner Technologie die Züge eines stärker systemisch ausgerichteten Rationalitätstyps.
Was wir für eine Ethik nach Tschernobyl und Fukushima lernen müssen, sind vor allem zwei Dinge:

1. Der Risikofaktor Mensch wurde systematisch unterschätzt. Technik, die fehlerlose Menschen voraussetzt, ist nicht verantwortbar.
2. Risiken sind immer auch eine abhängige Variable von gesellschaftlichen Wahrnehmungen und Prioritäten.

Da es über Strahlenrisiken schon aus methodischen Gründen keine wissenschaftlich eindeutige Bewertung gibt, sind diskursive Strategien von vorrangiger Bedeutung. Politik muss angesichts bleibender Differenzen ein möglichst transparentes und faires Konfliktmanagement ermöglichen und für eine gerechte Verteilung von Nutzen und Lasten sorgen. Die Laufzeitverlängerung hat diesen ethischen Zusammenhang unterschätzt.

2. Beobachtungen zur Rolle der Kirchen

Lange war die Frage der Kernenergie in der katholischen Kirche umstritten. Originäre Beiträge waren 1979 von Wilhelm Korff der abwägungsethische Zugang, seit 1980 die radikale Kritik der Kernenergie durch Kardinal Höffner, des damaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenzen, und 1996 vom Kommissiariat der Deutschen Bischöfe eine Monografie mit der Einführung des Begriffs „Brückentechnologie“, der heute eine so prominente Karriere gemacht hat. Gemeint waren bereits damals die Verabschiedung von der Kernenergie als großer Zukunftshoffnung und ihre ethische Zurückstufung als bloße Übergangsenergie auf dem Weg zu erneuerbaren Quellen.

Die EKD hat sich hach Tschernobyl für eine kategorische Ablehnung der Atomenergie ausgesprochen, die Bayerischen Bischöfe fordern in Reaktion auf Fukushima den Ausstieg „so schnell als möglich“. Einflussreicher als solche offiziellen Stellungnahmen ist aber wohl das jahrzehntelange zivilgesellschaftliche Engagement von kirchlichen Verbänden und Gruppen (z.B. bei den Ostermärschen). Betrachtet man die Rolle der Kirchen in der aktuellen Öko-Diskussion – besonders sichtbar in Baden-Württemberg –, dann liegt ihre spezifische Bedeutung wohl vor allem darin, dass sie den Umweltthemen auch in der bürgerlichen Mitte Akzeptanz und Gewicht verschaffen.

3. Das Argument der intergenerationellen Gerechtigkeit

Das Problem der Zwischen- und Endlagerung der radioaktiven Abfälle ist bekanntermaßen ungelöst. Es würde eine 10.000 Jahre stabile Gesellschaft voraussetzen, um die verbrauchten Brennstäbe sicher zu lagern. Das kann niemand garantieren. Schon gar nicht, wenn wir in die Geschichte blicken. „Unsere wissenschaftlich-technische Zivilisation ist eine labile und gefährdete Ausnahmeerscheinung auf diesem Planeten. Es ist frivol, in sie für unsere späten Nachkommen Gefahrenquellen einzubauen, die […] von unseren Nachfahren möglicherweise nicht beherrschbar sein werden“

Die 2008 bekannt gewordenen Probleme mit Wassereinlagerung und Einsturzgefahr im niedersächsischen Zwischenlager Asse II haben das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Sicherheitszusagen von Wissenschaftlern, Politikern und Kraftwerkbetreibern tief erschüttert. Unter diesen Bedingungen verstößt die Nutzung der Kernenergie gegen das Prinzip der intergenerationellen Verantwortung wie sie beispielsweise 1994 in Artikel 20a im Grundgesetz eingefügt wurde.
Ein weiterer m. E. zu wenig beachtetes Sicherheitsproblem ist die „Enthegung des Krieges“ im frühen 21. Jahrhundert, die die Kontrolle der Brennstoffzyklen gegen terroristischen Missbrauch sehr schwer macht. Viele folgern aus den unvermeidbaren Restrisiken eine kategorische, also nicht abwägungsfähige Ablehnung der Atomenergie.

4. Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Klimaschutz

Trotz der offenen Fragen gibt es gute Argumente, sich auf die Methode der Güterabwägung einzulassen, da wir gegenwärtig nicht zu entscheiden haben, ob wir die Kernenergie gut oder schlecht finden, sondern wie wir den Ausstieg mit den geringsten negativen Nebenwirkungen gestalten sollen.
Energetische Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Klimaschutz sind hohe gesellschaftliche Güter. Kernenergie leistet hierzu einen Beitrag. Wenn man von der Annahme eines weiter steigenden Strombedarfs ausgeht, sind Dilemmata unvermeidlich.
Kernenergie erscheint gegenwärtig vor allem deshalb attraktiv, weil sie von der großen Herausforderung eines Umbaus der Energiesysteme ablenkt. Bei genauem Hinsehen, kann sie diesen jedoch lediglich verzögern, jedoch nicht ersetzten.
Für die ethische Diskussion kommt hier dem Argument der Brückentechnologie eine entscheidende Funktion zu. Das Versprechen, die durch verlängerte Laufzeiten erzielten Gewinne konsequent für einen Umbau der Energieversorgung zu nutzen, steht dem Argument gegenüber, dass Kernenergie eher die nötigen Strukturveränderungen verhindere. Dieser bedürfe es, damit erneuerbare Energien und das riesige Marktpotenzial der Energieeffizienz ihre Chancen entfalten können. Wenn man den ordnungspolitischen Zusammenhängen eine hohen Stellenwert zuerkennt, wie diese beispielsweise Herrmann Scheer plausibel nachgewiesen hat, erscheint Kernenergie nicht als Brücke in die Zukunft, sondern eine Brücke in die Energiestrukturen von gestern.
Dennoch sollte der Ausstieg aus der Kernenergie nach Maßgabe ethischer Güterabwägung so erfolgen, dass wir uns dadurch nicht dauerhaft vom Zubau fossiler Versor-gungssysteme abhängig machen.

5. Wohlstand neu denken

Der Ausstieg aus der Kernenergie muss unter der Prämisse der gleichzeitigen Abkehr von der fossilen Energie erfolgen. Das erfordert eine grüne industrielle Revolution durch eine Richtungsänderung ökonomischer Modelle, technischer Innovationen und individueller Lebensstile.
Die Bewertung der Kernenergie hängt letztlich davon ab, ob man Wohlstand neu denkt und die ökonomisch-gesellschaftliche Entwicklung rechzeitig daran anpasst. Energie und Geld sind die beiden Schlüsselfaktoren für einen Entwicklungspfad, der schon heute eher den Umsatz als Lebensqualität für alle steigert. Eine Transformation unseres Wohlstandsmodells ist die Voraussetzung für nachhaltige Lösungen der Energiefrage.
Wir brauchen eine Energiediät. Die Maxime „schneller, höher, weiter“ ist nicht zukunftsfähig. Maßhalten fällt uns schwer, eröffnet aber zugleich auch substantiell neue Chancen von Lebensqualität und Entwicklung. Notwendig ist eine Emanzipation von der Anpassung an selbst erzeugte gesellschaftliche Handlungszwänge.

6. Ethik nach Tschernobyl und Fukushima

Tschernobyl und Fukushima scheinen bisher nur in Deutschland zu Symbolen des kollektiven Gedächtnisses geworden zu sein. Der Glaube an die Sicherheit der Atomenergie scheint für viele erfahrungsresistent. Die politische Halbwertszeit von Katastrophen, also der Zerfall des öffentlichen Gedächtnisses, ist kurz. Ethik nach Tschernobyl und Fukushima ist Erinnerungshilfe, damit die nötigen Konsequenzen nicht ins Unverbindliche verschoben werden.

Ein Gastbeitrag von Prof. Markus Vogt, LMU München,
Lehrstuhl christliche Sozialethik der Katholisch-Theologischen Fakultät und Forschungsprofessur am Rachel Carson Center for Environment and Society

Foto: un angenehm

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